Un jour tu t’achètes, un jour tu aimes
Un jour tu jettes, mais un jour tu payes
Un jour tu verras, on s’aimera
Mais avant on crèvera tous comme des rats
– Carmen, Stromae, 2015
Un jour tu jettes, mais un jour tu payes (@xoxo.miss.kittyinthecity)
Das erste Kleidungsstück, das Kitty sich vor den Körper hielt, stank noch nach der
Plastikverpackung vom Billigversand, der sie sponsorte. Sie verzog die üppig geschminkten Lippen
zu einem breiten Lächeln, während sie den Stoff in die Kamera des neusten Smartphone-Modells
hielt und ihr Blick sich beinahe ganz von selbst zur Zuschaueranzahl des Livestreams bewegte. Nur
achtzehntausend Zuschauer? Dabei hatte ihr Kanal xoxo.miss.kittyinthecity mittlerweile doch weit
mehr als eine Million Abonnenten.
Gespielt fröhlich hielt sie das billige Stück Stoff in die hochauflösende Kamera ihres Smartphones,
das sich auf der Website des Billigversands als Kleid schimpfte. Eine absolute Frechheit. Was sollte
sie mit einem Kleid anfangen, an dem zwar an sich nichts auszusetzen war außer dessen
grenzenlose Hässlichkeit? Natürlich hatte sie weder den lächerlichen Preis von 4,99 Euro bezahlt,
noch den Versand, aber wen kümmerte so etwas schon? Wenn dieser Haul nicht mindestens
zwanzigtausend Zuschauer brachte, war das Kleidungsstück nur für die Tonne geeignet.
Ein Sticker ploppte auf dem Bildschirm auf und sie beugte sich ein wenig nach vorn. Irgend so ein
armes Schwein hatte ihr eine Spende geschickt. Als ob sie das nötig hätte. Sie warf ihre langen,
hellbraunen Haare zurück und zwang sich zu einem Lächeln.
»Oh mein Gott, danke Mausi du«, säuselte sie, bevor sie sich zurücklehnte und das blöde Kleid
wieder in die Kamera hielt.
»Wenn ihr das Kleid noch heute bestellt Leute, gibt’s einen Rabatt. Ihr braucht nur meinen Code,
misskitty25, bei der nächsten Bestellung zu benutzen, dann kostet diese Schönheit nur noch ein 1
Euro. Lasst euch das Schnäppchen auf keinen Fall entgehen. Ein absoluets Must-Have«, flötete sie
übertrieben fröhlich. Ihre Follower merkten den Unterschied zwischen echten Emotionen und dem
ganzen gespielten Theater sowieso schon lange nicht mehr.
Mit einem letzten übertrieben Kussmund winkte sie in die Kamera und beendete den Livestream.
Kaum war sie den neugierigen Blicken der Leute vor dem Bildschirm entflohen, verdrehte sie die
Augen. Ihr Social Media Assistent, der sie mit einem gelangweilten Blick bedachte, trat einen
Schritt vor und knipste die unangenehm grelle Hintergrundbeleuchtung für den Stream aus.
»Mein Gott, die sind alle so dermaßen blöd«, sagte Kitty. Die Nase gerümpft tippte sie auf ihr
Profil, scrollte durch die neuen Kommentare, die vor Herz- und Kussemojis überquollen und sie mit
Lob überhäuften.
Das billige Kleid hatte achtlos sie auf den Boden fallen gelassen. Die Plastikverpackung davon lag
immer noch auf dem weissen Achttausend-Euro-Teppich, den sie so bald wie möglich loswerden
wollte. Er lag jetzt schon seit einer Woche in der Luxusvilla auf Bali und langweilte sie mit jedem
Blick mehr.
Der Social Media Assistent bückte sich, hob das Kleid und die Plastikverpackung auf und sah Kitty
fragend an. »Was soll ich hiermit machen?«
Kitty drehte sich wieder zu ihm um. Sie war bereits auf dem Weg nach unten gewesen, um die
nächste Lieferung ihres Sponsors anzunehmen, die ihr ein paar Einheimische immer hochbrachten.
Wie Kinder freuten sie sich über den mickrigen Lohn, den sie ihnen dabei in die Hand drückte. Wie
konnte jemand bloß so tief gesunken sein? So arm sein? Sie würde sich schämen. Bloß gut, dass das
sie nicht betraf. Ihr Konto quoll über vor Geld, das sie genauso schnell für alle möglichen Dinge
ausgab, wie sie es verdiente, nur um sie nach ein paar Wochen und Tagen zu ersetzen. Was
kümmerte es sie schon, wie es den anderen ging.
Abschätzig schaute sie das billige Kleid in den Händen ihres Social Media Assistents an. Das
Preisschild baumelte sogar noch daran. Mit ihrer manikürten Hand wedelte Kitty, als wolle sie eine
lästige Stechmücke vertreiben. Tat sie ja auch gewissermaßen.
»Schmeiß es in den Müll.«
Der Assistent nickte und hob die restlichen Kleidungsstücke auf. Die Hälfte davon war noch
eingepackt. »Und die hier?«
»Die können auch weg«, antwortete Kitty, bevor sie sich wieder umdrehte und zur Tür der Villa
ging. Gerade waren die Food Challenges wieder im Trend. Ihr Manager hatte vor ein paar Tagen
gemeint, sie könne ja mal 100 Orangen zu Orangensaft pressen lassen und an eine Handvoll Kinder
der Einheimischen verteilen. Das generierte Klicks und Sympathie bei ihren Followern. Und den
übrig geblieben Saft konnten sie danach einfach wegschütten.
Un jour tu verras, on s’aimera (@robertg.q054dj271584kjg)
Er kannte sie.
Kitty, mit bürgerlichem Namen Katharina Richter, geboren 2005 in Niedersachsen. Zwei Brüder,
die Mutter war Floristin, der Vater Steuerberater. Sie hatte das Geschwister-Scholl-Gymnasium
besucht; ihr jüngerer Bruder spielte Fußball im Jugendverein. Sie selbst hatte während ihrer
Schulzeit Handball im Mädchenteam gespielt. Sogar ihre Adresse kannte er, von der
Telefonnummer ganz zu schweigen. Sie joggte jeden Tag von Acht bis Neun. Für gewöhnlich legte
sie sich um Zehn ins Bett und stand um Sieben auf. Über ihren Familien- und Freundeskreis war er
sogar besser informiert, als über seinen eigene.
Und das nur, weil sie freiwillig jeden Augenblick ihres Lebens mit ihren Millionen Follower teilte.
Er bekam gar nicht mit, wie die Straßenbahn ruckelte. Wenn man ihn gefragt hätte, welches Wetter
gerade draussen herrschte, hätte er nur unwirsch mit den Schultern zucken können. Viel wichtiger
war Kitty, die sich gerade im Livestream verabschiedete. Etwas ungehalten tippte er auf dem
Bildschirm rum, als ein kleiner weißer Text erschien. Der Livestream ist leider beendet. Ohne die
anderen Fahrgäste zu beachten, besuchte er Kittys Account. Er kannte jedes ihrer kurzen Videos
auswendig, hatte er sie doch alle akribisch nach neuen Informationen über sie durchforstet. Ein
kurzes Lachen, womit er einen schrägen Blick der alten Frau neben ihm kassierte, kam aus seiner
Kehle.
Die sozialen Medien, wo die Leute glaubten, sie wären anonym. Dabei gaben sie dort so viel von
sich preis, dass es ausreichen würde, um ihr gesamtes Leben und ihre Identität mit einer Malware
auszulöschen. Ein winziger, unschuldiger Code, der eine Existenz zerstören konnte. Ein Screenshot,
entweder echt oder mit einer KI zusammengestellt. Wieder lachte er. Die alte Dame stand auf, setzte
sich neben einen geölten Anzugträger in der gegenüberliegenden Sitzreihe der Straßenbahn.
Es war so leicht, dass es beinahe schon ironisch war. Das Internet, die sozialen Medien waren eine
Tribüne, auf der jeder im Scheinwerferlicht stehen konnte, um sich wie der Mittelpunkt, der Nabel
der Welt zu fühlen.
Und für manche ihrer Follower waren sie auch der Mittelpunkt des Lebens. Fremde Menschen, die
sie besser kannten, als ihre Freunde oder Familie. Mit diesem Gedanken widmete er sich wieder
Kittys Account und scrollte durch ihre Videos.
Un jour tu t’achètes, un jour tu aimes (@kellermark1982)
Erst das Lachen seines Gegenübers ließ Mark aufschauen. Der Kerl mit dem quadratischen Gesicht
sah unauffällig aus und wäre es auch gewesen, hätte er nicht vor sich hin gelacht, als wäre ihm
gerade der beste Witz aller Zeiten erzählt worden.
Mark war alles andere als zum Lachen zumute. Er kam gerade vom Arzt zurück. Die dunklen
Regenwolken schienen seine Stimmung perfekt wiederzuspiegeln. Kurz überlegte er, ob er sein
Smartphone zücken sollte, um den Anblick einzufangen. Vielleicht konnte ihm das als Hintergrund
für seine Story dienen. #thefightisnotover.
Mit schweißnassen Händen fuhr Mark sich durch das Gesicht. Der Kerl gegenüber lachte wieder
vor sich hin und die alte Frau neben ihm stand auf, um sich neben Mark zu setzen.
Sie wollte ein Gespräch beginnen, aber Mark wandte sich ab und öffnete stattdessen die App auf
seinem Smartphone, in der er mehr als 1500 Freunde hatte. Vielleicht konnten die ihm helfen.
Immerhin kannte er sie jetzt seit Jahren. Gesehen hatte er sie zwar nie, manche wohnten gar nicht
hierzulande, aber die Freundschaften, die sich geformt hatten, waren echt. Dass ein Bildschirm die
menschliche Interaktion trennte war Mark egal.
Er hatte noch nie so viele Freunde gehabt. Gerne hätte er sich mal auf ein Bier mit ihnen getroffen,
aber das konnte er nun sowieso vergessen. Lungenkrebs, drittes Stadium. Der Arzt hatte wenig
Hoffnung auf eine Genesung, da Mark schon seit Jahren Kettenraucher war.
In seinem Status und seiner Story postete er die Neuigkeit und wartete. Immer mehr seiner Freunde
schauten die Story und seinen Status und schickten ihm Genesungswünsche. Mark hob den Kopf
und überlegte, ob er seine Freunde um Hilfe bitten sollte. Die Behandlung würde hart werden.
Chemotherapie, Bestrahlung, die ständigen Nachuntersuchungen im Krankenhaus…
Mark beschloss, eine zweite Story zu posten. Er hatte ja 1500 Freunde, da fand sich bestimmt einer,
der ihm unter die Arme greifen konnte.
Von manchen bekam er direkt eine Absage. Die anderen, von denen er gehofft hatte, sie würden auf
die zweite Story oder seinen aktualisierten Status reagieren, begegneten ihm nur mit eiserner
Funkstille. Langsam fraß sich Verzweiflung in seine Brust.
Seine Follower waren doch seine Freunde. Sie hatten sich so häufig geschrieben, ihre Beiträge
gegenseitig geliket. Manchmal hatten sie auch Kommentare unter den geposteten Fotos
hinterlassen. Wieso zum Teufel half ihm denn nun niemand von seinen Freunden, wenn er die Hilfe
wirklich nötig hatte?
Erst als Mark aus der Straßenbahn stieg, um nachhause zu eilen und dabei ein etwa
fünfzehnjähriges Mädchen umstieß, deren Augen geradezu am Bildschirm klebten, wurde ihm sein
Fehler bewusst.
Er hatte Follower mit Freunden verwechselt. Am Ende waren die Likes und die Follower doch nur
das vorgeheuchelte, gekaufte Interesse von Fremden an ihm und seinem Leben, die alle hinter ihren
Smartphones hockten und später in ihren eigenen Alltag zurückkehrten. In Wahrheit war er
schlussendlich selbst mit 1500 „Freunden“ (Follower) alleine.
Mais j’en connais déjà les dangers, moi (@oldmoney_zoe)
Das erste, was Zoe am Morgen tat, war, ihr Smartphone in die Hand zu nehmen. Den Tag anders zu
beginnen war für sie komplett unmöglich. Und es kam ihr auch überhaupt nicht in den Sinn. Sie tat
das ja, um informiert zu bleiben. Es machte Spaß und natürlich hatten alle ihre Freunde auch Social
Media. Anders konnte sie doch gar nicht mit ihnen in Kontakt bleiben, oder?
Zuerst checkte sie die Feeds ihrer fünf verschiedenen sozialen Netzwerke. Likte, kommentierte,
folgte. Dafür brauchte sie mindestens eine halbe Stunde. Daher tippte sie selbst im Bad vor dem
Spiegel auf dem Bildschirm rum oder scrollte durch die kurzen, 60-Sekunden Videos, während sie
ihre Zähne putzte. Frühstücken tat sie dadurch schon lange nicht mehr. Dafür hatte sie einfach keine
Zeit.
Sie schaute sich die Klamotten-Hauls von kittyinthecity an, lauschte den Wahrheiten über alles
Mögliche, die Teenager in ihrem Alter auf ihrem Bildschirm erzählten und damit Tausende von
Views bekamen. Ob die Fakten mit Quellen belegt werden konnten, fragte Zoe sich dabei nicht
mehr. Wenn sie auf den Netzwerken hochgeladen wurden, waren sie bestimmt vom Support geprüft,
oder?
Vom Schulweg in der Straßenbahn bekam sie auch schon lange nichts mehr wirklich mit. Nur
manchmal hob sie den Kopf, um aus dem Fenster zu schauen und war jedes Mal überrascht, wie
sehr sich die Landschaft doch verändert hatte. Sie senkte den Blick wieder auf den Bildschirm und
scrollte weiter. Ein süßes Katzenvideo, ein Kerl, der furzte und damit eine quackende Gans
nachahmte, ein Mädchen in ihrem Alter, das behauptete, Mommy und Daddy Issues wären eine
Ästehtik, niedliche Welpen, die im Garten tollten, jemand der heimlich einen Mann gefilmt hatte,
der ausrutschte und hinfiel, …
Beinahe hätte Zoe ihre Haltestelle verpasst und wurde beim Aussteigen von einem Mann in einem
schicken Anzug umgeworfen.
In der Schule hatten sie die Deutschprüfung der letzten Woche zurückbekommen. Mit einem Blick
auf die rote Schrift in der rechten oberen Ecke hatte Zoe ihre Note gesehen. 22/60 Punkte. Damit
lag ihr Durchschnitt bei 24 Punkten. Wenn es so weiter ging, würde sie das Jahr nicht schaffen.
Ihre Eltern wären davon alles andere als begeistert.
Seit Monaten wurden ihre Leistungen in der Schule schlechter und schlechter. Aber beim Lernen
wurde sie ständig von den Benachrichtigungen der fünf verschiedenen sozialen Netzwerke
abgelenkt und in den Klassenarbeiten konnte sie sich nicht länger als 10 Minuten konzentrieren.
Abgesehen von den Fakten in den kurzen Videos, die sie wie ein Schwamm aufsaugte, konnte sie
sich nur noch wenig merken, vom Schulstoff ganz zu schweigen.
Ihre Eltern sagten ihr bereits jeden Tag, dass sie viel zu viel Zeit auf den sozialen Netzwerken
verbrachte. Dabei waren es doch nur 5 Stunden. Oder ein wenig mehr. Aber sicher nicht mehr als 6.
Sie hatte es vollkommen unter Kontrolle. Nie würde sie so eine Person werden, die den ganzen Tag
hinter einem Bildschirm hockte und einsam verkümmerte.
Zuhause beim Essen baten ihre Mutter und ihr Vater sie, das Smartphone doch endlich wegzulegen.
Widerwillig drehte Zoe es um und stocherte in ihrem Essen rum.
»Wir haben deine Note in Deutsch gesehen-«, begann ihre Mutter behutsam. Innerlich stöhnte Zoe.
»Das kann so nicht weitergehen. Du stehst in jedem Fach auf der Kippe, von Mathe und Englisch
mal abgesehen, wo dein Durchschnitt unter 15 liegt«, unterbrach ihr Vater sie.
»Wir wollen, dass du diese sozialen Netzwerke löschst, wenigstens bis sich deine Noten wieder
etwas verbessert haben«, sagte ihre Mutter. Bittend schaute sie Zoe an. »Du verbringst Stunden am
Handy. Das ist nicht gut und kann gefährlich werden. Eine Sucht. Wir wissen ja nicht einmal, was
du dir genau dabei ansiehst.«
Wütend knallte Zoe das Besteck auf den Tisch.
»Ich kenne die Gefahren von Social Media sehr gut. Und Social Media ist nicht das Problem. Ich
muss nur eine bessere Lernmethode finden. Außerdem kann ich Social Media nicht löschen. Da sind
alle meine Freunde.«
In ihrem Zimmer öffnete Zoe die App und tippte »how to study more effective« ein.
Social Media war nicht das Problem. Sie war nicht süchtig danach.
Sie hatte es vollkommen unter Kontrolle.
Et puis chacun pour soi et c’est comme ça qu’on s’aime (@life_tips_help)
Ein Like bei seinem neuen Video »how to study more effective« ploppte auf dem Bildschirm auf.
Das blaue Licht des Smartphones und der flimmernde Bildschirm des PCs war die einzige
Lichtquelle im Zimmer, das er seit Monaten schon nicht mehr durchgelüftet hatte und dessen
Fensterrolladen mindestens ebenso lange heruntergelassen waren. Seit seine Ehe zu Bruch
gegangen war.
Er stand auf. Dabei knackten seine Knochen. Und das mit gerade erst 28 Jahren. In der Küche
wärmte er sich ein Fertiggericht auf. Zu etwas anderem reichte seine Kraft nicht mehr.
Klinische Depressionen. Das hatte sein Psychologe nach der Scheidung gemeint. Das Einzige, was
ihm noch Kraft gab, sie aber gleichzeitg auch wegfraß wie eine Müllpresse, war sein Account, wo
er mittlerweile 15000 Follower hatte.
Beinahe ironisch, wie er den Menschen anonym Tipps für alle möglichen Situationen gab, aber ganz
besonders in Beziehungen. Dabei hatte er seit Monaten mit niemandem mehr gesprochen. Er hatte
die Wohnung nur fürs Allernötigste verlassen. Manchmal kam er nicht umhin sich zu fragen, wie
man eigentlich mit Menschen umgeht. Sagte man ihnen einfach Hallo? Oder war das irgendwie
gruselig, von einem Wildfremden im Supermarkt angequatscht zu werden? Wie sollte man auf die
Dinge reagieren, die sie sagten? Wenn sie von ihren Leiden und ihren Hobbies erzählten. Wo sollte
er hinschauen, was sollte er mit seinen Händen tun während einem Gespräch? Für ihn kamen seine
Mitmenschen einer anderen Spezies gleich.
Wie war man ein sozial kompetentes Wesen? Er hatte es vergessen, bei der ganzen Zeit auf Social
Media. Eine Ironie der Welt, die vom Konsum geprägt ist.
Dadurch war auch seine Ehe zu Bruch gegangen. Er hatte sich lieber mit dem Leben der Anderen
hinter den Bildschirmen beschäftigt, als mit Elaine. Liebe, Ehe und Social Media. Aber nur weil er
eine Menge Zeit mit dem Leben der Anderen verbrachte, hieß das doch nicht, er würde Elaine nicht
mehr lieben. Er konnte ihr seine Liebe auch auf andere Weise zeigen. Das hatte er zumindest
gedacht.
Die Schuldgefühle nach der Scheidung, als ihm bewusst geworden war, wieso sie gegangen war,
hatten ihn noch tiefer in die Isolation und Depression gezogen. So tief, dass er nicht einmal mehr
wusste, wie es war, ein Teil seines eigenen Lebens oder der Welt um ihn herum zu sein außer hinter
dem Bildschirm, der seine Zuflucht geworden war.
Mais avant on crèvera tous comme des rats (@the.real.ari)
Arianna, auch genannt Ariana, scrollte durch die Videos des Accounts life_tips_help, bevor sie zu
Kittys Account wechselte. Sie war eine der treuesten Followerinnen von kittyinthecity. Regelmäßig
schickte sie Kitty Geschenke in ihren Livestreams. Dadurch hoffte sie auch, ihre Aufmerksamkeit
zu bekommen. Wie sonst sollte sie ebenfalls Influencerin werden?
Vor ein paar Tagen jedoch hatte Kitty einen Shitstorm bekommen. Sie war gecancelled worden, ihre
Videos hatte sie gelöscht und war auch sonst komplett von der Bildfläche auf allen Plattformen
verschwunden. Irgendjemand hatte eine alte Sprachnachricht von ihr ausgegraben, wo sie über eine
andere Influencerin hergezogen war und sich über deren Selbstverletzung lustig gemacht hatte.
Natürlich hatte Ari sie auch gecancelled. So einen Menschen konnte sie nicht supporten. Aber sie
fragte sich auch, wie sie sich in Kitty so hatte täuschen können. Die Influencerin war doch immer so
ehrlich und authentisch gewesen. Das Lächeln in ihren Videos…
Ari wäre eine bessere Influencerin. Echt, nett und berühmt.
Daher war sie auch auf den Account von life_tips_help gestoßen. Dort gab er Tips und Hacks wie
man schnell berühmt wurde. Erstens: Authentisch sein. Zweitens: Etwas tun, was andere bis jetzt
noch nicht so getan hatten. Es war eine Versprechung vom schnellen Geld, Fame, Follower,
Freunde, schicken Häuser, schnittigen Autos, heißen Typen,… Alles, was Ari zum Glücklichsein
brauchte. Denn das war es ja, was das Leben schlussendlich ausmachte, nicht wahr?
Auf ihrem Account hatte sie schon 989 Follower, aber es wurden einfach nicht mehr. Daher musste
sie zu extremeren Mitteln greifen. Und was war schon authentischer, als die neuste Challenge live
zu machen?
Der Wind spielte mit ihren langen blonden Haaren, während sie durchs Feld lief. Die Nacht hatte
ihre Spuren hinterlassen, Tautropfen verwandelten das Feld in eine Landschaft wie aus einem
Märchen. In einiger Entfernung sah Ari bereits ihr Ziel.
Vor Aufregung klapperten ihre Zähne und sie schaute kurz nach links und rechts, die Schienen hoch
und runter. Kein Zug in Sicht- oder Hörweite. Außer dem Knirschen der Schlacken unter ihren
Sohlen und ihrem eigenen Atem, der weiße Wölkchen hinterließ, störte nichts die morgendliche
Ruhe.
Sie öffnete die App und begann einen Livestream. Sie hatte sich die Fahrpläne der Züge ganz genau
eingeprägt. Ihr blieben ungefähr 14 Minuten bis zum nächsten Personenzug.
Mit einem strahlenden Lächeln trat Ari auf die Gleise, hielt die Kamera hoch und führte ein paar
Tänze vor, die momentan total im Trend waren.
Den ersten Zug bekam Ari ganz gut eingeschätzt. Das Herz hämmerte in ihrer Kehle, als sie,
begleitet von dem ohrenbetäubenden Hupen des Zuges, von den Gleisen sprang. Gerade noch
rechtzeitig. Der Zugwind bließ ihr die Haare aus dem Gesicht und ein hysterisches Lachen löste
sich aus ihrem Hals, mit dem auch die ganze Anspannung wich.
»Soll ich es noch einmal machen, Leute?«, fragte sie in die Kamera. Die Zuschauerzahl kletterte
laufend nach oben und ständig kamen neue Benachrichtigungen. Neue Follower, Geschenke,
Kommentare.
So funktionierte es also. Ari lächelte. Sie würde berühmt werden, reich und glücklich.
Den nächsten Zug bemerkte sie zu spät.
In ihrem Livestream waren mehr als 13000 Zuschauer.
Et c’est comme ça qu’on s’aime, comme ça consomme
»Teenager stirbt bei Social Media Challenge«. Das zierte die Titelseite der Zeitschrift, die der Mann
mit der violetten Krawatte heute Morgen beim Kaffee online überflogen hatte. Immerhin hatte die
Zeitung seine App nicht dafür verantwortlich gemacht. Das wäre auch lächerlich gewesen. Bloß
weil ein Mädchen zu dumm war, die Distanz zwischen sich und einem Güterzug richtig
einzuschätzen im Winkel der Kamera ihres Smartphones.
Natürlich hatte der Support den Livestream nicht gestoppt. Dafür war er viel zu gut besucht. Mit
jedem View, jedem Like, jedem Teilen und jeder Person, die mehr als drei Sekunden im Livestream
verharrte, verdiente er mehr. Da fiel ein einziges Teenager-Leben nicht ins Gewicht. Die Menschen
waren eben sensationsgeil. Und je größer die Tragödie, desto mehr Klicks. Mehr Klicks bedeutete
mehr Geld für ihn.
Er stand auf, lockerte die Krawatte etwas und ließ den Blick aus dem Fenster über die Stadt
schweifen. Der Kapitalwert seines Unternehmens hatte sich seit dem Tod dieser Ari und dem
Skandal um Kitty verdoppelt und verdreifacht. Die Aktien an der Börse waren über Nacht in die
Höhe geschossen, was wiederum mehr Menschen anlockte, sich bei seinem sozialen Netzwerk
anzumelden, um Teil des Gesprächstoffs zu sein.
Das ergab mehr persönliche Daten, die er an dubiose Drittanbieter verkaufen konnte. Was die damit
taten, wusste er nicht und es war ihm auch egal. Jeder User war für ihn sowieso nur eine weitere
Ware, seine Einnahmequelle in diesem System.
Mit einem kalten Lächeln auf den Lippen zog er sein Smartphone hervor. Wie gut, dass er bei
keinem sozialen Netzwerk angemeldet war, nicht einmal bei seinem eigenen. So bereicherte er sich,
ohne selbst in dieser Hölle von Konsum, Selbstverliebtheit, Sucht und Handel gefangen zu sein.
Er atmete tief ein. Das Leben war schön.