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Elsa Hengel

Gemobbte Kreativität



Kennt das nicht jeder? Im Herbst, wenn die Blätter heruntersegeln und den nassen Boden bedecken; wenn der kleine Bruder - die kleine Schwester, der Cousin, die Cousine oder das eigene Kind - lachend durch die Wiesen rennt und ruft: „Schau, ein Drache!“ und begeistert auf das herunterfallende Laub zeigt. Wie reagieren wir dann? Meistens lächeln wir und meinen: „Ja, genau.“ Denn wir teilen und bewundern diese wunderbare Fantasie der kleinen Kinder, da diese ja bald erwachsen werden und das alles vorbei sein wird.
Vorbei? Warum? Warum sollte die bunte Fantasie nur im Kindesalter präsent sein?
„Schau, dort ist ein Troll!“, ruft der Zwölfjährige und zeigt auf einen grauen Felsen. Die Reaktion? Die anderen Schüler sehen nur das matte Grau und erkennen kein magisches Wesen darin. Stattdessen lachen sie den Kreativen aus. Er sei kindisch, rufen sie. Spott hagelt wie kleine Eiszapfen auf ihn herab. Verletzt flüchtet er in seine eigene Welt, in welcher er Freunde hat. Imaginäre Freunde. So grenzt er sich immer mehr von den anderen ab, verliert sein Selbstbewusstsein, lernt, seine Meinungen und Ideen für sich zu behalten.
Vergebens sucht er Anschluss an irgendwelchen Gruppen, erfährt, wie sich Abweisung anfühlt, ist umgeben von spöttisch lachenden Gesichtern. Den Kummer frisst er in sich hinein und zerstört unbewusst sein Inneres. Schließlich ertränkt er seine Sorgen im Alkohol, stürzt in die unterste soziale Schicht hinab und seine kreativen Ideen geraten in Vergessenheit. Vielleicht treibt ihn die Verzweiflung sogar in Richtung Selbstmord.
Doch warum tut ein Mensch so etwas? Warum verletzt er andere aufgrund deren Fantasie?
Neid ist sicherlich ein Grund, aber auch der Zwang, sich der Gesellschaft anzupassen, spielt hier eine große Rolle. Alle wollen sie sein, wie es im Katalog geschrieben steht. Das perfekte Aussehen, das perfekte Denkmuster. Alles andere gilt als No-Go. Aber nicht jeder passt in dieses Muster, und nicht jeder will es so. Doch ist den Leuten ein Mensch zu anders, so stoßen die meisten ihn aus, verspotten ihn, weil er ein Spinner ist.
Aber sind die Spinner nicht die Gewinner?
Die Geschichte des verstoßenen Kreativen könnte anders verlaufen. Ihn könnte eine Zukunft als Schriftsteller, als Drehbuchautor, als Maler oder Musiker erwarten. Bewundern wir denn nicht die Leute, die uns mystische Filme auf die Leinwand zaubern, oder uns in den Bann ihrer spannenden Bücher ziehen? Warum also platzen so viele Träume von Künstlern, nur weil man sie mobbte und ihnen ihre verrückten Ideen aus dem Kopf schlug? Gäbe es keine anders denkenden Menschen, würden wir heute mit der Wissenschaft sicher auch nicht dort stehen, wo wir nun sind. Gerade jetzt, wo die Welt und die Menschheit in vielen Hinsichten bedroht sind, brauchen wir kreative Gehirne, die verrückte Ideen produzieren, und uns weiterhelfen. Wenn man den Kindern jedoch bereits im jungen Alter die Fantasie aus dem Kopf schlägt und sie in den Katalog der Norm klassieren will, ist dies kaum möglich.




Envoyé: 16:02 Wed, 1 April 2015 par: Elsa Hengel