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Grün Lukas

Am Ende aller Tage

 

Es war ein sonniger, schwüler Herbsttag als es geschah. Ich war allein im Park unterwegs. Mein kleiner Bruder Jonas war schon nach Hause gelaufen, um Hausaufgaben zu machen. Ich wollte den schulfreien Tag nutzen, um Skateboard zu fahren. Mathe kann warten! Ich stieg vom Board und ging über die kleine, gewundene Brücke, die über den ruhig dahinfließenden Bach führte. Die goldbraun verfärbten Blätter der knorrigen Eichen raschelten im noch warmen Südwind. Die letzten Zugvögel traten ihre lange Reise Richtung Süden an. Ich hatte die Brücke überquert und wollte soeben wieder auf mein Board steigen, als ich Sirenen in der Ferne hörte.

Ich dachte mir nichts bei dem schrillen, abwechselnd höher und tiefer werdenden Ton. Ich ging davon aus, es wäre ein Test. Ich grüßte eine alte Dame, die mühsam, sich auf einen Rollator stützend durch den Park spazierte. Als ich das Ende des Parks erreichte, hörte ich Stimmen. Schluchzen. Brüllende Kindern. Panische Schreie. Langsam fuhr ich ins Dorf. Entsetzt stellte ich fest, dass alle ihre Autos packten. Hastig füllten sie den Kofferraum voll mit Getränken und Lebensmitteln. Andere stopften notwendige Dinge, wie Decken, Jacken und Klopapier auf die Rückbank. Kinder stritten sich mit ihren Eltern, ob sie ihren Teddy mitnehmen dürften. Es herrschte ein unbeschreibliches Chaos. Ich schnappte einzelne Gesprächsfetzten auf: „Oh mein Gott, es ist passiert!“, „…Strahlung…“, „…Unfall…“, „…müssen flüchten“,  „…AKW…“ „…Lage…aussichtslos.“.

Ein Mann, Mitte dreißig, mit langen, verwuschelten Haaren, fragte mich, was ich denn hier noch machen würde, warum ich nicht versuchte zu fliehen? Nachdem ich ihn fragend ansah, schien er zu merken, dass ich nicht wusste, was passiert war. Als er gerade antworten wollte, fügte ich die Gesprächsfetzen in meinem Kopf zusammen: „Unfall, in einem AKW. Wir müssen flüchten, die Lage ist aussichtslos.“ Langsam begriff ich, was geschehen war. In meinem Kopf baute sich das schreckliche Bild des Ausmaßes der Katastrophe auf. Nun schaute der Mann mich stirnrunzelnd an, fragte, ob ich ihn verstanden hätte. Doch ich hörte ihn bereits nicht mehr. Ohne mich zu bedanken rannte ich in entsetzlicher Panik zurück in den Park, zurück nach Hause. Ich meinte noch, den Mann rufen zu hören, ich hätte mein Skateboard vergessen, doch ich beachtete ihn nicht.

Mit der Panik kämpfend rannte ich über den gepflasterten Weg zwischen den Eichen hindurch, die mir eben noch so friedlich vorgekommen waren. Nun ragten sie bedrohlich neben mir auf. Ich rechnete jeden Augenblick damit die radioaktive Strahlung in irgendeiner Form zu spüren. Doch nichts geschah. Als ich die Brücke überquerte, schaute ich zum Himmel empor. Ich erinnerte mich daran, wie ich früher im Garten gespielt hatte und meine Großmutter mir erklärte, die Wolken wären Wattebällchen. Dann kam meine Mutter immer mit frisch gebackenen Waffeln aus dem Haus heraus und sagte in strengen Ton zu Großmutter, sie solle gefälligst aufhören, mir Märchen zu erzählen. Auch jetzt stellte ich mir die Wolken als Wattebällchen vor. Jedoch wurde meine Angst nochmals größer, als ich an meine Mutter dachte. Packte sie jetzt auch in Panik das Auto? War Jonas wirklich nach Hause gefahren, half er nun beim Packen? Ich rannte weiter, mein Blick verschwamm. Doch als ich zu Hause ankam, lag das Haus friedlich da, nur die Haustür stand einen Spalt weit offen. Langsam trat ich ein.

Die Garderobe war durchwühlt, einige Jacken fehlten. Außerdem sah die Vorratskammer, mein sonst so gemütlicher Rückzugsort, aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Die Tiefkühltruhe stand offen. Sie piepste leise, wurde jedoch von den immer noch heulenden Sirenen übertönt. Ich bahnte mir einen Weg durch das Chaos und schloss die Tür. Das Piepsen verstummte. Auch die Schlafzimmer standen total auf dem Kopf. Die Decken fehlten. Langsam beschlich mich der furchtbare Verdacht, dass meine Mutter mit Jonas zusammen geflüchtet war ohne auf mich zu warten. Oder hatten sie mich in der Aufregung komplett vergessen? Panisch suchte ich nun alle Zimmer ab, rannte in den Garten, schaute in unserem kleinen Werkschuppen nach. Die kleine, selbstgebaute Holzbalustrade, die vor dem Häuschen stand, erinnerte mich an die Zeit, in der ich jeden Tag etwas zusammen mit meinem Bruder gebastelt und gebaut hatte. Aber auch im Schuppen war niemand.

Ich lief zurück ins Haus und rief nach meiner Mutter und Jonas, doch niemand antwortete. Ich fühlte mich verlassen. Und allein. Mit den Tränen kämpfend stieg ich die Treppen zum Dachboden hinauf, wo sich mein Zimmer befand. Vor der mit Graffiti verzierten Tür fand ich einen Zettel, geschrieben von meiner Mutter:

 „Wir mussten direkt aufbrechen. In der Garage steht mein Fahrrad mit allem, was du brauchst. Versuche zum Bahnhof im Städtchen zu fahren. Dort wird man dir helfen. Ich liebe dich! Mama“

Unter der Nachricht stand in Jonas krakeliger Schrift:

„Du schaffst das! Dein Jonas“

Verzweifelt setzte ich mich auf den Boden und lehnte mich gegen die raue Mauer. Die spitzen Enden der Steine stachen mir in den Rücken. Ich ließ meinen Tränen freien Lauf. Sie waren ohne mich gegangen, sie hatten mich zurückgelassen!

Ich weiß nicht, wie lange ich einfach nur dort saß, und unkontrolliert zitterte. Als ich mich wieder aufsetzte, verfärbte sich der Himmel durch die bereits tiefstehende Sonne rosa. Ich ging in die Garage, wo das türkisfarbene Damenrad meiner Mutter bereit stand, beladen mit Konserven, Wasser und einer Decke. Ich stieg auf und fuhr los. Bis zum Bahnhof in der benachbarten Kleinstadt waren es gut vierzig Kilometer. Auf der kurzen Strecke war inzwischen kaum noch Verkehr, die Landstraße lag verlassen zwischen den dichten Bäumen des Waldes da. Auf halber Strecke begegnete ich einem Polizisten, der mich mürrisch ansah. Er sprach etwas in sein Funkgerät und beachtete mich nicht weiter. Als ich mein Ziel fast erreicht hatte, sah ich, dass die Straße vor mir hell erleuchtet war. Einige Soldaten hatten eine Straßensperre aus Stacheldraht errichtet. In der Hoffnung auf Hilfe fuhr ich auf sie zu. Ein großer, grimmig aussehender Soldat zog mich, mich hart am Handgelenk packend, vom Fahrrad und fragte, was ich vorhätte. Nachdem ich erklärt hatte, ich wolle zum Bahnhof, schnauzte er mich an, es würden keine Züge mehr fahren. Wir wären alle verseucht! Ein anderer, etwas freundlicher aussehender Soldat erklärte mir, dieses Gebiet sei bereits so stark radioaktiv kontaminiert, dass alle Menschen, die sich dort noch aufhielten, eine Bedrohung für die restliche Bevölkerung darstellten. Sie selbst seien trotz der Gefahr, verstrahlt zu werden, freiwillig hierhergekommen, um das Land vor uns zu schützen. Ich begriff, dass sie mich nicht durchlassen würden, also versuchte ich mit Gewalt durchzubrechen, doch sie hielten mich auf. Immer wieder nahm ich Anlauf, doch sie hielten mich jedes Mal fest. Ich schlug wild um mich. Bald erlosch mein Widerstand.

Einer der Soldaten zog mich in sein Fahrzeug und fuhr mich zurück, die Landstraße entlang. Er ließ mich an einer Lichtung hinaus und schärfte mir ein, dass ich nicht zu ihnen zurückkommen sollte, es gäbe keine Möglichkeit mehr zu entkommen. Dann schloss er die Tür seines Gefährts und brauste davon.

Ich ging die Lichtung entlang bis hin zum Waldrand. Nun war es anders: Die Bäume, die mir beim Hinweg bedrohlich und dunkel vorgekommen waren, wirkten nun beruhigend. Im Unterholz raschelte es. Irgendwo plätscherte ein Bach und Frösche quakten. Ich glaubte einen Fuchs zu erspähen, merkte aber dann, dass es nur die orangerot blühenden Blumen waren, die zu dieser späten Jahreszeit hier noch massenhaft wuchsen. Die Lichtung lag verlassen und friedlich da, alles Bedrohliche war verschwunden. Ich hatte mich damit abgefunden, dass ich wohl sterben würde. Ich legte mich auf die Wiese, inmitten der süß duftenden Blumen und genoss die Wärme der letzten Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht. Ich dachte nicht an Jonas oder meine Mutter, ich fühlte nur mich und die Ruhe der Lichtung. Das letzte Bild, das ich vor Augen hatte, bevor ich wegdämmerte, war das der alten Frau aus dem Park. Ich erinnerte mich an ihre faltige Haut, an ihren unsicheren Schritt. An ihr freundliches Lächeln, als ich sie grüßte. Sie wirkte so gebrechlich. Mein letzter Gedanke, bevor ich einschlief, war, was wohl mit ihr geschehen war?

Weltweit gibt es mehr als 400 Atomreaktoren. Allein in Europa sind es 196 Reaktorblöcke. Bisher ist noch nie ein Unfall im dicht besiedelten Mitteleuropa geschehen. Von Tschernobyl trafen uns nur die Ausläufer, Fukushima war zu weit weg, um uns zur Gefahr zu werden.

Doch wo wird der nächste fatale Unfall geschehen? Wer wird die Folgen tragen? Doch die für uns wohl wichtigste Frage: Was, wenn Cattenom das nächste ist?

Diese Geschichte wurde im Gedenken an dieses eine schreckliche Szenario geschrieben. Was wenn die Sicherheitssysteme in Cattenom versagen??

 

 

 




Envoyé: 16:33 Wed, 1 April 2015 par: Grün Lukas