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Linden Pia

Das namenlose Mädchen

Das erste Mal, als ich sie sah, stand sie einfach nur in der Telefonzelle. Neben der Zelle, in der das Mädchen stand, liefen die Leute hektisch in eine warme Sommernacht hinein. Es schien so, als würde die späte Hektik ihr nichts ausmachen. Das Mädchen stand da, in der einen Hand hielt sie den Hörer und die andere hing genauso, wie die mit dem Hörer kraftlos zum Boden. Ihre Augen starrten durch das verdreckte Plexiglas, sie starrten nicht auf ein Ziel sondern irgendwo hin. Ich konnte Verzweiflung und Angst darin sehen. Angst davor alleine gelassen zu werden, vergessen zu werden. Ich hatte sie noch nie hier gesehen.

Nach dieser wortlosen und zugleich einseitigen Begegnung sah ich das Mädchen immer öfter. Jede Woche stand sie an „ihrer“ Telefonzelle. Entweder telefonierte sie mit einem und gestikulierte dabei wild mit ihren Armen oder sie stand nur da, so wie das erste Mal, als wir uns „begegnet“ sind. Anstatt zu dem Mädchen ohne Namen, so hatte ich sie heimlich vor ein paar Wochen getauft, zu gehen und mich vorzustellen, blieb ich unsichtbar für sie auf meinem kleinen schattigen Plätzchen stehen.

Am nächsten Tag war ich wieder da. Ich stand da und starrte auf die Zelle. Sie war leer. Ein großer schwarzer Bentley mit getönten Fenstern fuhr langsam die Straße entlang. Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Ich drehte mich langsam um. Da stand sie wieder, mit ihren Augen die mich angsterfüllt anstarrten. Ich wollte etwas sagen, doch sie hielt ihren langen knochigen Zeigefinger auf meine schmalen Lippen, um mich wortlos darauf hin zu weisen, meinen Mund zu halten, so als müsse sie mir etwas sagen und fürchte aber, dass ich sie nicht zu Wort kommen lies.

Ein fast nicht erkennbares Zucken schlug wie ein Blitz im Körper des namenlosen Mädchens ein, als sie einen schwarz bekleideten Mann aus dem Bentley steigen sah.

Mann ist wohl das falsche Wort um diese Kreatur, die eher einem wilden Tier glich als einem erwachsenen Mann aus dem 21.Jahrhundert, zu beschreiben. Haare wie die Mähne eines Löwen, Augen wie ein Wolf und Ohren wie Dumbo hatte der schwarz gekleidete Mann, der bestimmt auch einen guten Türsteher oder Basketball Spieler gewesen wäre, wäre er nicht aus dem Auto gestiegen.

Der Mann kam gerade wegs auf uns zu, packte das namenlose Mädchen am Arm und führte sie zum Auto, da sie keinen Wiederstand leistete, sah es so aus als wäre der Mann der Bruder des Mädchens und würde sie nach Hause bringen. Doch ich wusste genau, dass dies nicht so war. Die Tür klappte zu, das Auto fuhr weg und mit ihm das namenlose Mädchen. Ich stand ganz allein da so wie vor Wochen, als ich noch nicht einen einzigen Gedanken an das Mädchen verschwendete. Das Auto verschwand aus meinem Blickfeld, als es um die nächste Kurve fuhr. Als der schnurrende Motor des Wagens um die Kurve fuhr, stand ich bewegungslos da und starrte ihm nach.

Erst als eine alte Dame mich fragte, ob ich ihr helfen könne über den Zebrastreifen zu gehen, realisierte ich, dass das namenlose Mädchen gegen ihren Willen abgeholt wurde und auf eine mir unbekannte Stelle gebracht wird. Da rannte ich los ohne die ältere Dame zu beachten. Rannte um die Ecke und sah den hinteren Teil des Wagens auf die Hauptstraße fahren und danach in eine kleine Seitengasse einbiegen.

Mein einziger Gedanke war es dem Mädchen zu helfen. Indem ich mit pochendem Herzen über die Hauptstraße lief fragte ich mich dauernd, was mit dem Mädchen geschah, obwohl wir kein einziges Wort miteinander geredet hatten, hatte ich sie tief in mein Herz geschlossen. Ich bog in die Seitenstraße ein und sah den Wagen verlassen im Hinterhof eines großen weißen Hauses mit einer grauen Garage stehen. Als ich zu Atem kam und mein Herz wieder in einem normalen Rhythmus schlug, schaute ich durch die halb offenen Fenstern, die durch weiße Gardinen verschlossen waren. Man hörte nur die Noten des Hochzeitsmarsch von Richard Wagner.

Durch Zufall erhaschte ich einen Blick in das Haus, da eine leichte Windbrise die Gardinen für ein paar Sekunden zur Seite schob. Was ich da sah, war für mich nicht für möglich zu halten. Das Mädchen stand in einem langen Hochzeitskleid, neben ihr ein Mann in einem schwarzen Anzug und vor den beiden ein weiterer Mann der einem Pastor ähnlich sah. Das Mädchen erblickte mich und starrte mich wieder mit diesen angsterfüllten Augen an, sogar eine Träne erblickte ich in ihren noch so jungen Augen, die viel Leid und Gewalt gesehen hatten. Da war der Vorhang auch wieder vor dem Fenster.

Ich hörte ein Pochen, doch es war nicht das meines Herzen, sondern das Pochen von Stiefeln, die auf mich zukamen, als ich mich umdrehen wollte, bekam ich einen dumpfen Schlag auf den Kopf und fiel zu Boden, der letzte Gedanke den ich hatte war: Was geschieht nur mit dem Mädchen?




Envoyé: 16:47 Wed, 1 April 2015 par: Linden Pia