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Kalmes Jil

Last Minute



Ich war neun Jahre alt, als es geschah.

Ich saß im Flugzeug, um genau zu sein im mittleren Teil. Neben mir saßen meine Mutter und mein Vater. Beide lasen eine Zeitung, die sie zuvor am Eingang bekommen hatten. Ich sah zum Fenster heraus, als ein Vogelschwarm vorbeiflog. Ich hörte einen kleinen Knall, dachte mir aber nichts dabei. Also drehte ich mich wieder zurück und schaute, den von mir angefangenen Film weiter. Aus heiterem Himmel fing eine Frau an ganz laut zu schreien: „ Hilfe! Das Triebwerk brennt! Alle Leute sahen auf ihre Seite rüber und betrachteten das brennende Triebwerk. Aus der bis dahin herrschende Ruhe war nun Panik entstanden. Die Leute schrien laut um sich herum, so etwas hatte ich zuvor noch nie erlebt.

Aus den Lautsprecher tönte nun die Stimme des Piloten: „ Meine Damen und Herren, wie sie sicherlich schon bemerkt haben, steht unser Triebwerk in Flammen. Wir werden jetzt versuchen, die Situation unter Kontrolle zu bekommen.“ Der Pilot schien so ruhig und gelassen, fast unglaubwürdig, doch er musste so sein, um die Leute nicht noch mehr zu beunruhigen. Aus dem hinteren Teil der Maschine erhob sich ein älterer Herr, ich würde sagen Ende fünfzig. Er stürmte nach vorne zu den Stewardessen. Er erklärte ihnen, mit seinem lustigen englischen Akzent, dass er selbst Pilot gewesen sei und diese Situation nur allzu gut kennen würde. Die Stewardess öffnete dem Mann die Cockpittür, die mit einem Passwort verriegelt war. Erst nach einem tragischen Vorfall, wurde diese Regel eingeführt.

Die Stewardess ging mit ins Cockpit, wo sie noch eine Weile blieb. Es war ziemlich beunruhigend. Schlussendlich kam sie dann wieder heraus und sprach über die Lautsprecher zu uns: „Meine Damen und Herren, wir werden sie jetzt für die Notlandung vorbereiten, bitte seien sie aufmerksam." Sie zeigt uns alle verschiedenen  Vorgehensweisen. Ich war zu beschäftigt damit, das Triebwerk zu beobachten, dass ich ganz vergas zu zuhören. Ich wusste jedoch größtenteils, wie man sich verhalten musste, sodass es nicht allzu schlimm war.

Nun herrschte Stille im Flugzeug. Wir warteten alle nur darauf, dass die Crew uns das Signal zur Notlandung gab. Jedoch würde es nie zu diesem Signal kommen. Dies wussten wir allerdings in dem Moment nicht. Ich sah, wie meine Eltern neben mir einen Brief schrieben, in dem sie die wichtigsten Informationen festhielten. Inmitten dessen, spürte ich, wie das Flugzeug nach unten gezogen wurde. Zu diesem Zeitpunkt gingen mir tausend Gedanken durch den Kopf. Wie würde es weiter gehen? Würde ich überleben? Würde überhaupt irgendjemand überleben? Es war schon ein recht komisches Gefühl, darüber nachzudenken, wie man sterben würde. Doch nun musste ich erst einmal in der Realität bleiben. Zwei Minuten waren nun schon vergangen, seit das Flugzeug zum ersten Mal nach unten gezogen wurde. Eigentlich sind zwei Minuten nicht viel Zeit, mir kamen sie jedoch wie eine Ewigkeit vor. Das Flugzeug wurde immer schneller. Ich wurde bewusstlos, was dann geschah, wusste ich nicht.

Ich spürte, dass ich auf einer Wiese liegen würde, verschüttet von Trümmern. Ich konnte mich weder  bewegen, noch wusste ich wo ich war, doch eins konnte ich, hören. Ich konnte alles um mich herum wahrnehmen. Ich hörte, wie Leute sprachen und umhergingen. Mit einem Mal fing eine Person an zu schreien: „Ich habe einen Überlebenden gefunden.“ Ich spürte, wie mehrere Leute herbei gestürmt kamen. Sie hoben mich auf und legten mich auf eine Liege. Ich wurde ins Krankenhaus gebracht, wo ich zwei Monate im Koma lag, bis ich schlussendlich aufwachte. Ein großer Mann mit weißem Kittel stand neben meinem Bett, es musste wohl der behandelnde Arzt sein. Er berichtete mir, dass ich die einzige Überlebende sei. Mir kamen die Tränen. Was würde nun mit mir passieren, ich hatte doch jetzt niemanden mehr. Meine Eltern waren gestorben, genau wie meine Großeltern.

Er sagte mir, ich müsste mich noch ein wenig ausruhen. Ich bräuchte mir keine Gedanken zu machen, er würde alles arrangieren.

Nach einer Woche wurde ich dann entlassen. Ich kam zu einer Pflegefamilie, die vom Jugendamt ausgewählt wurde. Ich fühlte mich sehr wohl in meiner neuen Familie, jedoch konnten sie meine richtigen Eltern nicht ersetzen. In der Zeit besuchte ich regelmäßig die Absturzstelle, um Blumen dahin zu legen.

Acht Jahre waren nun vergangen. Ich war volljährig und fing aus Traurigkeit an zu trinken. Mit der Zeit trank ich so viel, dass ich manchmal sogar im Krankenhaus landete. Am zehnjährigen Jahrestag des Absturzes, ging ich dann zur Absturzstelle. Für jede schlechte Erinnerung, trank ich ein Glas Wodka und zwischendurch noch Bier. Schließlich schlief ich ein und wachte nie mehr auf. 

Ich hinterließ noch eine Nachricht:

Liebe Pia, lieber Thomas,

Wenn ihr diesen Brief lest, hoffe ich, dass ihr mich verstehen könnt. Mir wurde mit der Zeit alles zu viel. Ich habe meine Eltern verloren. Ich hatte es noch immer nicht verarbeitet und würde es wohl auch nie können. Ich wäre nie mehr glücklich geworden.

Es war die richtige Entscheidung. Ich hoffe ihr könnt meine Entscheidung nachvollziehen.

Es tut mir leid.

 




Envoyé: 13:03 Thu, 2 April 2015 par: Kalmes Jil