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Székely Emma

So lange werde ich warten

So lange werde ich warten

 

 

 

Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es schon Viertel nach acht ist. In einer Viertelstunde hole ich sie ab, so wie wir’s besprochen haben. Nachher gehen wir spazieren. Das machen wir oft. Vor allem im Winter. Da ist es am schönsten. Wenn der Schnee vom Himmel herabfällt und alles weiß bedeckt ist. So schön weiß. Wie auf einem anderen Planeten. So hatte sie’s gesagt, als wir uns zum ersten Mal getroffen haben. Das war vor drei Jahren. Damals hätte ich nie gedacht, wie viel mir so eine kleine Blondine bedeuten würde. Ich hatte mich damals sofort in sie verliebt. Sie wirkte wie ein Engel im Schnee. Ihre wunderschönen grauen Augen strahlten so viel Freude aus. Ihr Lächeln wirkte so bezaubernd. Und ihre Stimme. Sie war sanft, und dennoch energisch. Ich fragte mich, wie nur so viel Energie in eine so kleine Person hineinpassen konnte. Doch als sie auf mich zukam, wusste ich einfach, dass sie die Richtige war. Durch Zufall hatten wir uns kennengelernt, oder wie sie gesagt hätte: Das Schicksal hat uns einander begegnen lassen. Na ja, Schicksal hin oder her, in ein paar Minuten würde ich meinen kleinen Engel wiedersehen. Wie bezaubernd sie heute wohl aussehen mochte. Vielleicht trägt sie heute ihren Lieblingsschal, den ich ihr vor drei Jahren geschenkt hatte. Er passt zu ihren schönen Augen. Hoffentlich hat sie sich warm angezogen, denn wie es scheint, ist es kälter als sonst. Ich kann meinen Atem in der Luft vor mir schweben sehen. Schneeflocken fallen auf meine Mütze und auf meine Jacke. Während ich mir meine Handschuhe überziehe, zieht ein kalter Wind an mir vorbei. Ich merke, wie ich anfange leicht zu zittern. Aber wir haben uns versprochen, uns bei jedem Wetter am Samstagabend zu treffen und spazieren zu gehen. Also ist mir das Wetter egal. Ich würde jederzeit zu ihr kommen, wenn sie mich brauchte. Sogar wenn die Welt untergehen sollte, liefe ich zu ihr und umarmte sie. Denn dann ist immer alles wieder gut. Vielleicht hat mein Engel magische Kräfte, denn umarmt sie mich, ist meine Welt wieder in Ordnung. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Ich werde sie wiedersehen. Bald, sehr bald. Ich schreite etwas schneller voran. Am Ende dieser Straße muss ich nach links abbiegen. Ich kann es kaum erwarten. Noch ein kleines Stück und endlich, ich bin am Ende der Straße angelangt. Jetzt nur noch ein paar Meter nach links und dort wird sie sein, wie immer. Ich stapfe mit meinen Stiefeln durch den Schnee. Gleich, gleich bin ich bei dir! Nur noch ein paar Schritte! Mit schnellem Atem und einem wild pochenden Herzen in meiner Brust bleibe ich stehen. Nur noch ein kleines Stück! Mein Herz beginnt noch schneller zu schlagen und plötzlich weh zu tun. Es ist ein stechender Schmerz, tief in meiner Brust. Er wird mit jedem Schritt, mit dem ich mich ihr nähere, stärker und ist fast kaum noch zu ertragen. So stark ist er, dass ich plötzlich nach Luft ringen muss und mir die Tränen kommen. Wie soll ich sie denn sehen, wenn meine Augen mit Tränen gefüllt sind? Ich wische mir schnell die Tränen weg. Sie sollte mich nicht weinen sehen. Da ist sie. Langsam setze ich mich in den Schnee neben sie. Meine Hose wird zwar nass, aber das nehme ich gerne in Kauf. Ich bliebe für immer neben ihr sitzen, wenn ich könnte. Ich würde für immer und ewig bei ihr bleiben, so wie wir’s uns versprochen hatten. Es ist heute recht kalt mein Engel, findest du nicht auch?“ Ich sehe sie nicht direkt an, während ich zu ihr spreche. Mein Herz tut immer noch unglaublich weh, und es wird nicht besser, obwohl ich jetzt bei ihr bin. Ich habe dir Kerzen mitgebracht, ich weiß, dass du die Dunkelheit nicht magst. Warte kurz, ich zünde eine an.“ Ich suche nach dem Feuerzeug in meiner Jacke und greife nach einer Kerze. „Weißt du, heute war mein Tag nicht so berauschend. Ich vermisse dich sehr, mein Engel.“ Schnell zünde ich die Kerze an und lege sie auf die Steinplatte. „Ich würde alles geben, um dich jetzt zu umarmen. Ich vermisse dich so sehr.“ Schon wieder kommen mir die Tränen und ich muss schluchzen. „Ich wollte dir deine Lieblingsblumen bringen, mein Engel. Aber leider konnte ich keine Rosen finden. Glaub mir, ich habe versucht, dir welche zu kaufen; ich weiß, wie glücklich es dich macht. Aber…“ Ich kann nicht weitersprechen, meine Kehle fühlt sich an, als sei sie zugeschnürt. Warum? Warum ausgerechnet sie? Es hätte mich erwischen sollen! Ich versuche verzweifelt weiterzusprechen. „Es hätte mich erwischen sollen, nicht dich! Mensch, ich brauche dich doch, verdammt!“ Dieser Schmerz ist kaum noch auszuhalten. Wenn ich bloß da gewesen wäre, hätte ich es bestimmt verhindern können. Es ist alles meine Schuld. „Verzeih mir bitte“, flüsterte ich. „Es tut mir so unendlich leid. Ich…“ Verzweifelt umklammere ich ihr Grab. Wie soll ich es denn ohne sie schaffen? Ich hätte sie nicht verlieren dürfen. Wenn ich sie bloß noch einmal hätte umarmen können…

Nach einer Weile erlöschen die Kerzen eine nach der anderen und ich beruhige mich. Mittlerweile ist es noch kälter geworden und es schneit auch stärker. Zeit zu gehen. „Es tut mir leid. Versprochen, das nächste Mal bringe ich dir Rosen mit. Ich vermisse dich.“ Irgendwann werden  wir uns wiedersehen, versprochen, und so lange werde ich warten.

 

 

 


 




Envoyé: 16:40 Fri, 29 October 2021 par: Székely Emma