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Morava Martin

Du hättest bremsen sollen



Schmerzen, kompletter Kontrollverlust verbunden mit dem Gefühl durchgeschüttelt zu werden lagen weit, sehr weit zurück. Dazwischen befand sich lediglich eine Leere, eine Schwärze, unerklärlich lang und düster. An jegliche Dinge, die davor geschehen waren, jegliche Erinnerungen, die bis dato erlebt wurden, jegliche guten sowie schlechten Momente, konnte sich ein Jemand erinnern. Es schien jedoch, als wären die wichtigsten Informationen, kleine und feine Kleinigkeiten, die man sonst als normal ansehen würden, entnommen worden. Dieser eine Jemand könnte Gunther heißen genau so gut könnte man ihn aber auch Hermann oder Adam nennen. Auf all die Namen würde dieser Mann reagieren, wie auch auf eine Palette anderer Vorschläge. Wieso? Das war dem jungen Jemand, der die Statur eines 40-jährigen Mannes besaß, etwas schmächtig war und dessen Rücken vom vielen Sitzen krumm war, nicht bewusst. Sicher war nur, dass er niemals an Schizophrenie gelitten hatte. Woher Hermann, der Name gefiel der verirrten Seele am Besten, dieses Wissen nahm, lies sich auch nicht sagen. Er wusste es halt…

Ebenso lag weiterhin im Dunkeln, wie Hermann her gekommen und was auf dem Weg geschehen war. Der Boden war samtig weich, ein laues Lüftchen wehte, kühl war es, ob schon, wenn die Seele gen Himmel schaute, diese zugeben musste, dass sie der Sonne niemals näher gewesen war. Ein Paradoxa möchte man meinen, doch ließe man dann außer Acht, dass es auf einem Berg ebenso kälter als im Tal war. Andererseits wirkte diese Gegend hier nicht wie eine Bergregion – in alle vier Himmelsrichtungen konnte man weit hinaus ins…Nichts blicken! „Merkwürdig“. Es ertönte eine Stimme, von der Seele selbst stammend, die nichts weiter als ein Laken trug, sich aber nicht weiter daran zu stören schien. Das lag daran, dass der verirrten Seele diese Stimme so fern und unbekannt vorkam, dass sie ihn erschrak und das war nicht das einzig merkwürdige, was geschah...

Genau in diesem Moment, wie bestellt, tauchte ein Fremder auf. Dieser trug nichts, bewegte sich komplett entblößt und nur langsam und schwer atmend vorwärts. Das einzig mächtige an diesem Fremden war der Bart, der vom Kinn bis zum Boden reichte und auf diesen zu treten, er immer zu drohte. Der restliche Körper war fragil und alt, jedoch schien dieser jemand es sich fest vorgenommen zu haben, Hermann zu erreichen. Seufzend zuckte dieser mit den Achseln und kam dem Alten entgegen, legte ohne zu zögern einen Arm um den alten Mann und stützte diesen. Dieser positiv überrascht, setzte ein wackliges Lächeln auf. „Ich weiß ich verlange dir womöglich viel ab“, sprach der klapprige Mann, „aber würde es dir etwas ausmachen, mir deine Kleidung zu geben?“. Und erneut ohne zu zögern, entschied sich Hermann zu handeln, übergab dem alten Herrn das dünne Stück Stoff, welches noch bis vor kurzem seinen Körper bedeckt hatte. Nun war es der Bürofachmann, der komplett entblößt die Gegend dekorierte. „Da du mir geholfen hast, lass mich nun dir helfen“, sagte der klapprige Mann und mit einem Mal wirkte er nicht mehr so schwach und zerbrechlich.

Wieder wurde der verirrten Seele schwarz vor Augen und dem einem Jemand war es so, als würde er wo anders hin transferiert werden. Ohne sich zu wehren, ließ Hermann diesen Eingriff gewähren und plötzlich kamen auch verlorene Erinnerungen zurück.Sommer, Autobahn. Das Auto war vollgestopft mit allem was man für einen Surfurlaub brauchte. Auf dem Fahrersitz natürlich Hermann selbst, ein richtig heiß Feger, wenn er sich so nennen durfte. Auf dem Beifahrersitz die Arbeitskollegin, mit der er natürlich nur ein Arbeitsverhältnis pflegte, von der seine Frau aber komischerweise noch nie etwas gehört hatte und auch noch nie kennen lernen durfte. Ihre Augen, ihr Duft, dieser wunderbare weiche Busen, all diese Dinge gingen dem knapp 40-jährigen durch den Sinn. Ebenso, dass hinter ihm zwei weitere Kollegen saßen, die ihn anfeuerten, zu jubelten, er solle doch noch schneller fahren…

Dann ein Schock, eine Berührung, Hermann riss die Augen auf und brüllte vor Entsetzen auf. Verwirrt sprang er auf, die Frau die ihn anblickte, seine Arbeitskollegin, ihr Gesicht war aber voller Blut, der Körper bespickt mit Scherbeln. Von da aus blickte Hermann in weitere hässliche Fratzen von Menschen, die ebenso offene Wunden trugen, die Körper förmlich entstellt. Angst überflutete seinen Körper, drangen wie kleine Nadelstiche in jede Pore seines Körpers. Brüllend und schreiend rannte Hermann daraufhin los, wollte einfach nur weg von hier und weg von diesem Alptraum, ignorierte dabei die Worte „du hättest Bremsen sollen“, die die Frau ihm nachrief. Erst als er den Rand erreichte, sich schnaufend auf seine Knie abstützte und durch die Wolkendecke hinab auf die Erde blickte, ereilte ihm die Erkenntnis:

Er hätte wirklich bremsen sollen.




Envoyé: 10:33 Sat, 4 April 2015 par: Morava Martin