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Elsa Hengel

Die Stadt der Untoten

 


„Samuel, wo steckst du?“, flüsterte eine raue Stimme ins Walkie-Talkie und wartete vergebens auf eine Antwort. „Samuel, hörst du mich? Over!“
   „Ich befürchte, dass er auch nach zehn weiteren Versuchen nicht antworten wird, Marc“, flüsterte eine andere, viel hellere Stimme und wagte einen Blick durchs Schlüsselloch. „Noch sind keine da. Los, holen wir Duncan und verschwinden von hier!“
   „Nein, Sandra!“, protestierte Marc angespannt und schlug mit der Faust auf den Boden. „Wir bleiben hier, bis Samuel auftaucht. So war es vereinbart.“
   Sandra schüttelte den Kopf. „Und wenn er tot ist?“, fragte sie trocken, obwohl sie wusste, wie sehr der Tod seines Bruders den anderen verletzen würde. „Es ist Stunden her, dass wir ihn zuletzt gesehen haben.“
   „Er ist nicht tot.“
   „Warum bist du dir dessen so sicher?“, fragte sie und wühlte Staub mit ihrer Hand auf.
   „Ich bin sein Bruder. Ich spüre sowas“, erwiderte Marc ernst und sah sie an.
   Sie blickte zurück. „Wenn du meinst. Aber wenn wir deswegen draufgehen wird das uns auch nicht mehr helfen.“
   „Wir werden nicht sterben, Sandra. Sei nicht so pessimistisch.“
   „Sei nicht so pessimistisch?“, wiederholte sie laut. „Ich weiß ja nicht, ob es dir aufgefallen ist, aber während der letzten Woche haben wir drei Leute verloren!“
   „Aber wir leben noch. Du, Duncan, Samuel und ich und im Lager warten noch Mina, Kelly, Derek und Erik auf uns.“
   „Eine Horde könnte sie überfallen haben“, flüsterte Sandra bitter und dachte an ihre kleine Nichte Kelly, die sie seit fast zwei Tagen nicht mehr gesehen hatte. Zu oft hatte sie sich schon vorgestellt, wie die zarte Haut des kleinen Mädchens von blutigen Zähnen zerfetzt wurde. Ihr durfte nichts geschehen. Sie musste dringend zu ihr zurückkehren und sie beschützen!
   „Erik besitzt viel Erfahrung im Kämpfen und hat Mina bereits so viel gelehrt, dass die beiden fähig sind, ihres und das Leben der anderen zu retten, falls etwas passiert“, beruhigte Marc sie.
   „Trotzdem. Wir müssen aufbrechen. Jetzt!“, entschied Sandra plötzlich in Sorge und stand auf.
   „Nein, was wird dann aus Samuel?“, fragte er und sprang ebenfalls auf. „Was, wenn er hierherkommt und niemanden mehr findet…“
   „Marc, sei realistisch!“, fuhr Sandra ihn an. „Seit Stunden warten wir auf deinen Bruder und haben bisher kein einziges Lebenszeichen von ihm erhalten. Wenn wir jetzt sofort gehen, schaffen wir es vielleicht noch bis zum Stadtrand bevor die Sonne untergeht. Im Dunkeln will ich nämlich nicht auf einen Untoten treffen!“
   „Aber…“
   „Marc! Sandra!“, rief jemand.
   Beide drehten sich zum Gang auf der anderen Seite des Raumes um. Schritte eilten herbei.
   „Duncan?“, rief Sandra. „Duncan, bist du’s?“
   Ihre Antwort erhielt sie dadurch, dass ihr junger Kumpan aus der Dunkelheit erschien und auf sie zu rannte. Völlig außer Atem stemmte er die Arme in die Hüften und holte ein paar Mal tief Luft. Er musste wirklich sehr schnell gelaufen sein.
   „Was… Was ist dort hinten passiert?“, fragte Marc besorgt.
   „Hunderte Untote“, keuchte er. „Hunderte! Sie befinden sich in einem anderen Raum, aber der ist sehr schlecht  verriegelt. Einige sind bestimmt schon auf dem Weg hierhin!“
   Sandra warf Marc einen ernsten Blick zu. „Nun haben wir aber wirklich jeden Grund von hier zu verschwinden.“
   Marc blickte bedrückt zu Boden und dachte an seinen Bruder. „Ja…“, bestätigte er leise.
   „Vielleicht begegnen wir ihm unterwegs“, tröstete Sandra ihn und legte ihm unerwartet eine Hand auf die Schulter.
   Ein Schuss ertönte neben ihnen. Es war Duncan gewesen, der mit seiner Pistole in den dunklen Gang geschossen hatte. Ein Untoter fiel auf den Boden.
   „Sie kommen“, teilte der junge Mann ihnen mit. „Nichts wie weg hier.“
   Marc hob seine Armbrust samt Köcher auf, während Sandra ihr Gewehr entsicherte. Dann blickte sie durchs Schlüsselloch, um sicher zu gehen, dass noch immer kein Untoter in der Nähe war. Langsam öffnete sie die Tür und hielt ihr Gewehr schussbereit. Nach einem Wink folgten ihr die anderen beiden ins Freie. Sie befanden sich in einer Nebengasse, die sie als einigermaßen sicher definiert hatten, was sich bestätigte. Denn auch nach hundert Metern konnte der Trupp keinen einzigen Untoten sichten.
   Die drei erreichten die offene Straße und sahen sich aufmerksam um. Vereinzelte Untote bewegten sich zwischen den Autos und stöhnten. Es war ein unheimlicher Klang. Duncan versuchte die teils mit Blut und Innereien überströmten Kreaturen zu zählen, doch er hatte das Gefühl, als kämen immer weitere hinzu.
   „Los, beeilen wir uns“, flüsterte er.
   Die anderen beiden nickten. Marc zielte mit seiner Armbrust auf die sich näher befindenden Untoten und jagte ihnen lautlos Pfeile in den Kopf. Dann traten sie leise auf die Straße und steuerten den Kiosk auf der anderen Seite an. Bis jetzt hatte noch niemand sie wahrgenommen; und wenn doch ein Untoter sie gesehen hatte, flog kurz darauf ein rasender Pfeil in seinen Kopf. Aufgrund des Risikos, dass andere Untote das laute Geräusch vernahmen und herkamen, mieden sie es, im Freien mit Kugeln zu schießen. Eigentlich.
   Es war Duncan, der die stöhnenden Laute des Untoten vernahm, der unmittelbar auf sie zustürmte. Das Geschöpf stammte aus dem dunklen Gang, in dem er vorhin gewesen war. Fast hatte er Marc, der gerade einen auf dem Boden gefundenen Gegenstand untersuchte, erreicht, als Duncans erste Reaktion das Abdrücken des Pistolenabzugs  war. Die Kreatur stürzte zu Boden und  war bald darauf mit Blut bedeckt. Sandra und Marc drehten sich erschrocken um und blickten anschließend Duncan an. Dieser wusste nicht, wie er Marcs Blick deuten sollte. Er erkannte Dankbarkeit, weil er ihm gerade das Leben gerettet hatte, doch auch Vorwürfe waren im Blick enthalten.
   „Ich…“, begann Duncan seine Entschuldigung, doch er wurde von lautem Gestöhne unterbrochen.
   Das Schlimmste befürchtend sahen sich die drei Freunde um. Von allen Seiten her stürmten Untote auf sie zu. Der Kampf um Leben und Tod hatte begonnen. Augenblicklich richteten sie ihre Waffen auf die Geschöpfe und schossen drauf los. Nun, da bereits ein Schuss gefallen war, konnte ihnen auch egal sein, wie viele weitere noch fallen würden. Ohne Gnade tötend kämpften sie sich bis auf die andere Straßenseite durch. Dort stießen sie die Tür zum Kiosk auf, traten ein und verriegelten sie von innen mit einem Stuhl.
   „Ich wollte nicht schießen, aber du warst in Lebensgefahr, Marc“, vollbrachte Duncan schließlich seine Entschuldigung.
   „Schon gut, ich bin dir dankbar, Kumpel“, verzieh dieser ihm schmunzelnd. „Wir haben es lebend bis hierhin geschafft. Mach dir keine Vorwürfe.“
   „Ach du Scheiße!“, stieß Sandra hervor und schlug die Hand vor den Mund.
   „Was ist?“ Duncan und Marc eilten zu ihr.
   Dort breitete sich auf dem hölzernen Boden ein richtiges Massaker aus. Blutlachen und Fleischstückchen bedeckten die Dielen und rochen unerträglich. In der Mitte des Festmahls befand sich ein lederner Schuh, in welchem sich noch ein Fuß befand. Aber nur ein Fuß. Er war mit Blut überströmt und einzelne Fetzen ragten aus dem Innern heraus. Die kleine Truppe hatte sich mittlerweile an solche Anblicke gewöhnt, doch dieser hier schockierte sie trotzdem. Und das aus einem ganz bestimmten Grund.
   „Das ist… Samuels Fuß“, brachte Marc fast tonlos hervor. „Ich… erkenne seinen Schuh.“
   „Bist du dir… ganz sicher?“, fragte der junge Duncan, der es nicht glauben wollte. Der Blutlache nach könnte ihr Freund somit verblutet sein.
   „Ja… Ich bin mir ziemlich sicher“, bestätigte der Bruder des Opfers und kramte etwas aus seiner Jackentasche. „Ich habe vorhin auf der Straße ein Walkie-Talkie gefunden. Es… ist das von Samuel.“
   „Er hat es auf der Straße verloren und ist hierhin geflüchtet“, vermutete Sandra.
   „Hmm.“ Marc verfolgte den Verlauf der Blutspur. Sein Blick blieb an der Hintertür hängen. „Seht, er hat den Weg zu unserem Wagen genommen“, stellte er fest.
   „Unser Treffpunkt wäre doch viel näher gewesen“, rätselte Duncan. „Warum ist er nicht bei uns aufgetaucht?“
   „Die Straße war voller Untoter. Er wäre mit nur einem Fuß niemals lebend in der Nebengasse angekommen“, gab Duncan zu bedenken.
   Marcs Augen weiteten sich, er stellte sich alles bildlich vor. „Los! Wir müssen ihn suchen! Er braucht ärztliche Versorgung! Schnell!“ Er war schon dabei, die Hintertür zu öffnen. Ungeduldig trat er hinaus.
   Duncan und Sandra eilten ihm hinterher. Draußen durchquerten sie die dunklen Nebengassen zwischen den Häusern, in welchen sie zum Glück nur auf wenige Untote trafen, die ihr Auftauchen mit einem Pfeil im Kopf bezahlen mussten. Schließlich konnten sie von weitem einen Mann auf dem Boden liegen sehen. Blitzschnell befand sich Marc an seiner Seite, während Sandra und Duncan einige Sekunden später ankamen.
   Die leicht gebräunte Haut des siebenunddreißig Jährigen besaß viele Kratzer und Schrammen; einige waren mit trockenem Blut bedeckt. Etwas mehr rot gefärbt war sein Hemd, aber auch in seinen schulterlangen braunen Haaren klebte Blut. Über seinen geschlossenen Augen zierte eine dicke Beule seine Stirn. Den Freunden fiel sofort auf, dass er noch beide Füße besaß, er aber tatsächlich die gleichen Schuhe hatte wie der Typ, dem der Fuß von vorhin gehörte. In seiner linken Hand hielt der Mann etwas Seltsames umklammert. Bei näherem Betrachten identifizierten sie es als Schienbeinknochen, dessen Enden eine tödliche Wunde verursachen könnten.
   „Samuel!“ Lachend und besorgt zugleich umarmte Marc seinen geliebten Bruder. „Samuel, wach auf!“
   Nach einigem Rütteln tat er dies auch. „Was…? Marc?“ Blinzelnd blickte er nach oben. „Marc! Sandra! Und der kleine Idiot ist auch da!“
   Eigentlich hätte Duncan ihn für diese Bezeichnung schlagen sollen, doch in diesem Fall genügte ein Augenrollen auch.
   „Wie ist es dir ergangen?“, fragte Sandra. „Wir dachten dieser Fuß im Kiosk stamme von dir!“
   „Oh, nein“, lachte Samuel und richtete sich auf. „Auf der Straße wurde ich überfallen. Nicht von Untoten, sondern von lebenden Menschen!“ Entsetzt schlug er mit der flachen Hand auf den kalten Boden. „Sie raubten mir meine Waffe und meine Munition. Ich sah sie Richtung Kiosk laufen und folgte ihnen. Dort fand ich dieses abgetrennte Bein und dachte mir, ich könne diesen Knochen hier kurz ausleihen, um nicht unbewaffnet gegen diese Drecksäcke antreten zu müssen.“ Er lachte und betrachtete amüsiert seine selbstgebastelte Waffe. „Damit könnte ich tausend Körper aufschlitzen und ihnen das Gedärme entnehmen.“
   „Und was geschah dann?“, unterbrach Marc die makabren Gedanken seines Bruders.
   Samuel räusperte sich. „Hier, genau hier, stand ich, als ich dort unseren Wagen vorbeifahren sah. Am Steuer saß einer der Typen, der beim Überfall dabei gewesen war. Ich wollte mich an ihre Fersen heften, doch sie schossen mit einem dicken Stein nach mir.“ Er tastete seine Stirn ab und fühlte, wo sich die Beule befand. „Wenn ich diese verdammten Arschlöcher in die Finger bekomme, dann…!“
   „Sie sind mit unserem Wagen weggefahren?!“ Duncan war außer sich. „Wie sollen wir jetzt zum Lager zurückkehren? Wir werden in diesem Drecksloch hier elend verrecken!“
   „Duncan, beruhige dich. Es ist ja nicht so, als ob es sonst keine Fahrzeuge in einer Großstadt gibt“, meinte Sandra gelassen.
   „Die Süße hat recht“, stimme Samuel zu und kratzte sich am Kopf. „Doch  wir brauchen ein fahrtüchtiges Auto mit Benzin drin. Das ist schon etwas seltener in solchen Zeiten.“
   „Nicht unbedingt“, sagte Marc grübelnd. „Ich weiß nämlich zufällig, dass sich hier in der Nähe eine Autogarage befindet.“
   „Gut, Brüderchen!“, lobte Samuel und klopfte ihm fest auf die Schulter. „Dann führ uns dorthin!“
   Aufmerksam traten sie auf die offene Straße am Ende der kleinen Nebengasse; Marc und sein Bruder bildeten die Spitze der Truppe, da sie die lautlosen Waffen besaßen. Sandra und Duncan würden nur im Notfall schießen. Während sie sich einen Weg durch die Straßen bahnten, fand Samuel Gefallen daran, seinen Knochen weit nach vorne zu werfen, so dass er sich tief in den Kopf eines Untoten bohrte. Später nahm er dann seine Waffe, die er bereits ins Herz geschlossen hatte, wieder an sich.
   Bis zur Autogarage gab es nur einen kleinen Zwischenfall, der jedoch gut ausging. Als Samuel nämlich einmal seinen Knochen aus dem Untoten zog, packte ihn dieser am Arm und wollte ihm seine Zähne ins Fleisch jagen, doch Marcs Pfeil war schneller.
   „Guter Schuss, Bruder“, lobte Samuel ihn lachend, denn ihn kümmerte es nicht, dass er fast sein Leben verloren hätte. Er war eben ein Draufgänger.
   Das große Tor der Garage stand offen und war voller Kratzer. Auf leisen Sohlen trat die Truppe ein; im Innern bot sich ihnen ein riesiges Chaos. Zwischen zerbeulten Ersatzstücken und ausgelaufenen Kanistern lagen Fleischfetzen in roten Blutlachen. Sie teilten sich in zwei Gruppen auf; die beiden Brüder durchsuchten den linken Teil des Gebäudes, während Duncan und Sandra sich den rechten vornahmen.
   Dort stießen sie sogleich auf eine Bank mit einem aufgeschlitzten Mechaniker darauf, dem die Gedärme aus dem Bauch hingen. Er roch verfault und war von schwirrenden Fliegen umgeben.
   „Es muss bereits eine Weile her sein, dass hier einer gewesen ist“, stellte Sandra leise fest und stupste den Mechaniker mit ihrem Gewehr an.
   Dieser öffnete schlagartig die Augen und stürzte sich auf die unachtsame Frau. Stöhnend schlug der Untote seine Zähne in das zarte Menschenfleisch. Blut spritzte. Schreiend wand sich Sandra unter dem verfaulten Etwas, doch sie konnte es nicht wegstoßen. Duncan zwang seinen Körper aus dem Schockzustand und schoss drauf los. Seine Hände zitterten, er wusste nicht, ob er traf. Schließlich wurde es still und er konnte nur noch seinen schnellen Atem hören. Ängstlich blickte er die beiden Körper auf dem Boden an.
   „Sandra!?“, fragte er panisch. „SANDRA!!!“ Er kniete sich hin und schob den Untoten mit einer raschen Bewegung beiseite.
   Der Körper der Frau war über und über mit Blut bedeckt. Einige Gedärme des Untoten besudelten ihre Kleider. Eine breite Wunde zierte ihre Schulter. Sie musste tief sein, denn Duncan konnte ihre Knochen sehen, an denen noch einzelne Fetzen hingen. Im Fleisch sah er einen Zahn des Mörders stecken. Zu seiner Verwunderung atmete Sandra noch. Ihre Augen waren leicht geöffnet und sie flüsterte etwas. Duncan hielt sein Ohr an ihren Mund, um sie besser zu verstehen.
   „Kelly…“, wisperte sie mit großer Mühe. „Kel… ly…“
   „Sandra, nein!“, sagte Duncan verzweifelt.
   Mit Tränen in den Augen sah er der Frau bei ihrem letzten Atemzug zu. Dann fuhr er mit der rechten Hand über ihre Augenlieder, um sie vollkommen zu schließen. Er stand auf und hörte schnelle Schritte hinter sich.
   „Duncan! Sandra!“, rief Marc. „Was ist geschehen? Wir haben Schüsse gehört!“
   „Verdammte Scheiße, schau dir die Süße an!“, stieß Samuel geschockt hervor.
   „Sandra!“ Marc kniete sich neben sie und rüttelte an ihrem Körper. Vergebens.
   „Es ist meine Schuld“, wisperte Duncan weinend. „Ich war zu langsam.“
   Noch bevor einer der anderen beiden etwas sagen konnte, hielt er sich seine Pistole an den Kopf und drückte ab. Mit hoher Geschwindigkeit raste die Kugel durch das Fleisch und beendete so sein junges Leben, das unfähig gewesen war, mit solchen Schuldgefühlen zu existieren. Mit einem dumpfen Knall landete der leblose Körper in einer Blutlache auf dem dreckigen Boden, direkt neben Sandra.
   „Nein, Duncan!“, rief Marc und konnte nicht fassen, was er soeben miterlebt hatte. Zwei seiner besten, zwei seiner einzigen Freunde hatte er gerade verloren. Und er hatte sie nicht retten können. Laut schluchzend vergrub er das Gesicht in seinen Händen. Er spürte, wie sich die raue Hand Samuels tröstend auf seine Schulter legte. Worte sprach sein Bruder nicht, da er keine passende fand.
   So verbrachten die Gebrüder einige Minuten in der Nähe ihrer toten Freunde. Danach kostete es sie einige Überwindung, ihnen in den Kopf zu schießen, um zu verhindern, dass sie ebenfalls zu Untoten wurden. Schließlich  kehrten sie zu der Stelle zurück, an der sie vorhin die Schüsse wahrgenommen hatten, denn eigentlich waren sie fündig geworden und hatten einen vollen Kanister mit Benzin entdeckt. Samuel meldete sich freiwillig, um die schwere Last nach draußen zu schleppen. Dort tankte Marc damit ein funktionsfähiges Auto und beide stiegen ein. Sie hatten sich ihr Gefährt gut ausgewählt, denn hier steckte der Schlüssel noch. Nach einigen Startproblemen sprang der Wagen an und rollte mit Samuel am Steuer Richtung Stadtrand. Anfangs begegneten sie einigen Untoten, welche Marc ohne Probleme mit seiner Armbrust beseitigte, doch nachdem sie die Stadt verlassen hatten wurde es ruhiger.
   Der Himmel färbte sich orange und funkelnde Sterne erschienen am Himmel. So schön dieser Anblick auch war, Marc sah völlig traurig durchs Fenster hinaus. In seinem Kopf formten die Sterne die Umrisse der Köpfe von Sandra und Duncan; der Wind klang wie ihre Stimmen, wie ihr Lachen. Er dachte an all die Moment, die er mit beiden erlebt hatte, dachte an ihre erste Begegnung damals in dem kleinen Dorf. Er schmunzelte, als er sich erinnerte, wie Duncan das erste Mal mit ihm in den Wald jagen war. Und ihm fiel wieder ein, wie wunderschön Sandras Stimme war, wenn sie abends am Lagerfeuer ein Lied angestimmt hatte. In seine Träumerei vertieft begann er eine dieser Melodien zu summen. Erst nur ganz leise, dann lauter, um das Rauschen des Autos zu übertönen. Er bemerkte, wie Samuels raue Stimme zum Klang dazu kam.
   Als sie den Zaun passiert und das kleine Försterhaus erreicht hatten, brachte Samuel das Gefährt zum Stoppen. Der Rest der Truppe hatte sie bereits sehnsüchtig erwartet und stürmte aus dem Haus heraus auf das umzäunte Gelände. Marc wusste nicht, wie er ihnen von den Verlusten erzählen sollte. Mit Tränen in den Augen sah er, dass die kleine Kelly, die nun ihr letztes Familienmitglied, ihre Tante Sandra, verloren hatte, sie zuerst erreichen würde. Während er die Autotür öffnete und ausstieg, schwor er sich, Sandras geliebte Nichte bis ans Ende seiner Tage mit dem eigenen Leben zu beschützen.




Envoyé: 22:01 Sat, 4 April 2015 par: Elsa Hengel