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Dostert Cassandra

Königstochter

Elvira starrte angestrengt auf ihre Hände. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn und liefen in kleinen Bahnen über ihr kindliches, rundes Gesicht. Lange herrschte Stille im Raum. Gebannt starrten die übrigen Kinder die kleine Prinzessin an. Alle hielten die Luft an, selbst Elvira. Ihr Blick richtete sich nun auf die Wasserschale vor ihr. Es rührte sich nicht. Keine Welle kräuselte die ebene Oberfläche und verzerrte die Spiegelung des jungen Mädchens. Nach fünfzehn Minuten, die sich für Elvira wie eine Ewigkeit anfühlten, ließ sie ihre Hände sinken und hob enttäuscht den Kopf. Enttäuschung schlug ihr auch von den Gesichtern der Anwesenden entgegen. Vereinzelt konnte sie sogar ein hämisches, schadenfreudiges Lächeln erkennen. Beschämt und den Tränen nahe senkte sie wieder den Kopf. Dies gab ihrem Lehrer den Anlass, den heutigen Unterricht zu beenden. Schwatzend und sorglos verließen die Schüler den Saal. Elvira wartete bis jeder den Raum verlassen hatte, dann stand auch sie auf und griff sich ihre Umhängetasche. Doch ein hoher schlanker Körper versperrte ihr den Weg. Langsam blickte sie auf und starrte in die schwarzen Augen ihres Lehrers. „Das wird schon. Es gab schon vorher Fälle, bei denen sich ihre Gaben erst später entwickelt haben.“ Seine Worte klangen aufmunternd, das Lächeln ehrlich. Doch Elvira sah die Sorge in seinen Augen. Und das war bisher das Schlimmste, das ihr heute passieren konnte. Nickend und ein „Danke“ murmelnd schob sie sich an ihrem Lehrer vorbei und verließ endlich den Raum. Der Flur vor ihr war menschenleer. Durch die Konstruktion des Turms hörte sie noch Wortfetzen und widerhallendes Lachen ihrer Mitschüler. Gerade als sie sich anschickte, den Turm zu verlassen, erschienen auf der Wendeltreppe schon zwei Soldaten der Königlichen Garde. Mit einem innerlichen Aufseufzen fragte Elvira sich, wie ihr Vater schon so schnell von ihrem Versagen erfahren hatte. Ohne auch nur ein Wort zu sagen, folgte sie den wartenden Männern. Während des ganzen Weges durch den Turm, über den Hof bis ins Hauptschloss sprach auch niemand nur ein Wort. Noch nie hatte Elvira sich einsamer gefühlt.

Endlich angekommen, blieb sie nun allein vor der massiven Eichenholztür stehen. Die Wachen gingen wieder auf Patrouille durch den Flügel. Die kleine Sechsjährige straffte ihr Schultern, drückte den Rücken durch und hob den Kopf, dann klopfte sie an der Tür, schob sie mit Anstrengung auf und schritt anmutig in den Raum hinein. Bis sie über den Saum des dicken Teppichs stolperte und der Länge nach hinfiel. Das Gesicht in den Teppich drückend hörte sie ein Kichern, dann die Stimme ihres Vaters: „Einen eindrucksvollen Auftritt hinzulegen ist sehr wichtig für eine zukünftige Königin. Du solltest diese Redensart aber nicht allzu wörtlich nehmen.“ Eine kräftige Hand schwebte vor ihrem Gesicht. Zögerlich ergriff Elvira sie und ließ sich von ihrem Vater aufhelfen. Nun aufrechtstehend, strich sie sich die Kleidung glatt und sah ihrem Vater in die Augen. Er umfasste ihre Schultern, strich ihr kurz über das feuerrote Haar und forderte sie dann dazu auf, sich zu setzen. Sie setzte sich artig auf einen der dunkelblauen Sessel und beobachtete dann wachsam, wie ihr Vater sich an seinen Schreibtisch setzte. Ein simpler Schreibtisch mit ein paar Schubladen und einem imposanten dunkelroten Sessel dahinter. „Mir wurde schon zugetragen, was heute im Unterricht passiert ist. Beziehungsweise, was nicht passiert ist.“, fing ihr Vater an. Mit ruhiger Stimme und sorgenvollem Unterton fuhr er fort: „Es kann schon passieren, dass sich eine Gabe nur langsam entwickelt. Und bei jedem ist das verzeihlich. Nur bei dir nicht, Elvira. Du bist meine Tochter. Alle anderen Schüler in deiner Klasse haben ihre Gabe schon gefunden und üben fleißig. Momentan bist du schwach, angreifbar, ein leichtes Ziel. Keine würdige Anwärterin auf den Thron.“ Er machte eine Pause, unschlüssig, ob dies schon zu forsch war. Und tatsächlich sah er in den Augen seiner Tochter ein leichtes verräterisches Glitzern. „Ich gebe doch schon mein Bestes, Papa.“, versuchte Elvira nun mit gefasster Stimme sich zu verteidigen. „Ich strenge mich an. Aber das Wasser will nicht. Es bewegt sich auch nicht nur für einen Hauch. Als wolle es mich nicht haben.“ Nun stemmte sie die Hände auf die Knie, ballte sie zu kleinen Fäusten und starrte wiederrum auf den Boden. Sie wünschte, sie könnte den Ozean vor dem Schloss kontrollieren. Die Wellen befehligen, Schiffe lenken, Strömungen hervorrufen, unter Wasser atmen. Aber sie konnte es nicht. In ihrer Welt entwickelten sich die Gaben der Völker schon mit dem Alter von vier Jahren, einige früher, einige später. Das absolute Maximum war sechs Jahre. Und in ein paar Monaten würde Elvira schon sieben Jahre alt werden. Und immer noch war sie von allen Adligen und besonders begabten Einwohnern ein Spätzünder. Gerade als Prinzessin des Reiches könnte man doch glauben, dass sich die Gabe ihrer Familie stark ausprägen würde, dass sie die Stärkste in ihrer Klasse sei. Aber das Gegenteil war der Fall. Sie war alleine, eine Außenseiterin, die nicht als solche behandelt wurde wegen ihres Status, was sie aber spürbar in den Augen und Gesichtszügen ihrer Mitmenschen wahrnahm. Sie passte nicht hierher.
Ihr Vater sprach weiterhin mit ihr. Irgendetwas über die Pflichten der Thronanwärterin, weiteren Entspannungs- und Trainingsübungen zum Anfachen ihrer Gabe. Von dem freundlichen Vater war nichts mehr übrig. Sorge, Vorwürfe und Anspannung standen ihm ins Gesicht geschrieben und als er endlich merkte, dass seine Tochter der ewigen Litanei nicht mehr zuhörte, entließ er sie mit einer Handbewegung. Immer noch schweigend verließ sie sein Arbeitszimmer und machte sich schnurstracks auf den Weg zur Bibliothek. Dort angekommen schob sie eine der Doppeltüren auf und lugte hinein. Ihr Blick fiel sofort auf eine Ansammlung bunter Kissen an einem Erkerfenster und dort lümmelte er sorgenfrei und las ein Buch. Neid erfasste sie und einen Moment lang war sie sich nicht sicher, ob sie Killian wirklich mitnehmen sollte. Doch da hob er schon den Kopf und blickte ihr geradewegs in die Augen. Seine hatten ein helles blau mit einem leichten Grünstich. Deutlich bildeten sie einen Kontrast zu seinem pechschwarzen Haar. Sie neigte den Kopf Richtung Ausgang, hob fragend eine Augenbraue. Er nickte, legte sorgsam das Buch zurück in eins der Regale – wie konnte er sich nur merken, woher er sie genommen hatte? – und kam auf sie zu. Sie verstanden sich ohne Worte. Killian war als ihr Ziehbruder aufgewachsen, was die diplomatische Formulierung für seinen Status als Geisel war. Er kam aus einem Königreich, das Reich an Getreide und Früchten war, aber gänzlich ohne Gaben auskommen musste. Dementsprechend war es relativ leicht für ihren Vater gewesen, es bei seinem Amtsantritt zu unterwerfen und eine Geisel für eine „friedliche“ Koalition zu verlangen. Nun war er hier. Killian ohne Gabe. Er war schon sieben Jahre alt und durfte sogar schon ohne Pferdelehrer reiten. Bei ihr musste man aber immer noch die Zügel in der Hand halten, damit sie nicht einfach vom Rücken des gigantischen Tieres fiel. Er konnte sich nicht mal mehr an seine Heimat erinnern, was er Elvira erst nach ständigem Ausfragen endlich gebeichtet hatte.                                                                                                 
Jedenfalls wusste er von ihrem Problem, auch wenn er die ganze Tragweite dieser Katastrophe nicht verstand. Auch jetzt fragte er scheinbar unbekümmert: „Und? Wieder keine Wasserschlacht angezettelt?“ Aus ihrem erbosten Blick schlussfolgernd, kannte er die Antwort auch ohne Worte. „Wo gehen wir hin?“ fragte er kurz darauf, um schnell abzulenken. „Zum Strand“ war die knappe Antwort.

 

 

Es dauerte nicht lange, bis die beiden Kinder den Strand erreicht hatten. Dieser war nur zehn Minuten zu Fuß vom Schloss entfernt, was die spezielle Nähe des Königsgeschlechts zum Wasser symbolisieren sollte. Dies war auch eine der Trainingsübungen, die Elvira von ihrem Lehrer und von ihrem Vater gepredigt wurde. Am Strand stehen, die salzige Meeresluft einatmen, das Wasser rauschen hören, die Wogen und den Sand unter den Füßen spüren. Das alles solle ihr ein Gefühl für ihre Gabe geben. Bisher ohne Erfolg. Sie war schon etliche Male am Strand eingeschlafen, erschöpft von den ganzen Sinneseindrücken und der inneren Anspannung, und wurde ebenso viele Male vom Personal des Schlosses gesucht und zurückgebracht. Seitdem ging Killian immer mit, seine ruhige Art half ihr zu entspannen. Er hatte keine Erwartungen an sie. Akzeptierte sie auch so als Spielkameradin solange sie mit ihm mit Holzschwertern kämpfte und sie in den Schlossgärten Verstecken spielten. Er akzeptierte sie auch ohne Gabe. Und so standen sie nun am Strand, das Meerwasser schwappte über ihre Schuhe, durchnässte ihre Füße und Elvira schloss ihre Augen. Sie spürte den Wind, spürte das kalte Wasser, den rutschigen nassen Sand unter ihren Füßen und hörte das Rauschen und Brechen der Wellen. Sie versuchte alles auszublenden, versuchte, die Meerestiere in dem Gewässer zu ertasten, versuchte, die Strömungen zu erfassen, sie zu lenken. Einfach irgendetwas zu tun. Doch es passierte nichts. Erneut. Frustriert ließ sie sich auf den Boden plumpsen, verschränkte die Arme um ihre Knie. Killian tat es ihr gleich. Sie stützte den Kopf auf die Knie und endlich ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Allerdings versuchte sie, ihr Schluchzen zu unterdrücken. Killian durfte es nicht merken. Sonst würde er sie beim nächsten Holzschwertkampf wieder wie ein Mädchen behandeln. Das hat er schon einmal getan. Aus Mitleid. Aber sie brauchte kein Mitleid. Sie brauchte ihre Gabe. Stumm bahnten sich nun die Tränen aus ihren giftgrünen Augen den Weg hinunter und liefen in ihren Kragen. Das Wasser schwappte weiterhin über ihre Schuhe, durchnässten ihre Hosenbeine. So langsam ging die Sonne auch unter, ein wunderschöner feuerroter Ball, der langsam am Horizont im Meer versank. Zumindest sah es so aus. Elvira war schon groß. Sie wusste, dass ihre Welt um die Sonne herumkreiste und sie deswegen auf- und unterging sowie die Jahreszeiten beeinflusste. So viel konnte sie sich schon merken und so viel wusste sie auch schon. Aber sie fand die Vorstellung schön, dass die Sonne dahinten im Meer verschwand. Auch wenn sie wütend auf ihre Gabe war, dass sie schon so lange schlief oder schon bei ihrer Geburt gestorben war, fand sie das Meer und das Wasser trotzdem schön.                                                               
„Glaubst du, Mama und Papa kriegen ein neues Kind? Eins mit einer Gabe? Das auch stark und gut genug ist, um Königin oder König zu werden?“ diese Frage kreiste schon lange in ihrem Kopf herum. Bisher hatte sie es nicht gewagt, es laut auszusprechen. Sie wollte nicht, dass es wahr werden könnte. Aber so langsam lief ihr die Zeit davon und ihr Vater wurde immer ungeduldiger. Ihre Mutter äußerte sich schon lange nicht mehr zu ihren Verfehlungen. Und sie wusste nicht, was schlimmer war: Die offene Enttäuschung ihres Vaters oder dass ihre Mutter schon aufgegeben hatte. Sie war egal wie eine Enttäuschung für ihre Familie und das ganze Königreich. Killian schwieg und Elvira drehte ihren Kopf zu ihm und sah, wie er gedankenverloren auf die untergehende Sonne starrte. „Vielleicht. Eine Schwester oder ein Bruder würde euch allen helfen.“ Er schwieg wieder und Elvira starrte erneut auf ihre Knie und die ans Ufer schwappenden Wellen. Recht hatte er, aber bei dem Gedanken baute sich ein kindlicher Frust in ihr auf. Der Frust, dass sie nicht gut genug für ihre Familie und für die Untertanen war. Der Frust, dass sie nicht hineinpasste und eventuell ersetzt werden könnte.

Königstochter.

Sie stockte. Hob erstaunt den Kopf und sah wieder zu Killian. Doch der malte mit seinen Fingern Kreise in den nassen Sand und zappelte sichtlich ungeduldig mit den Füßen.

Königstochter!

Sie hörte die Stimme nur in ihrem Kopf. Definitiv weiblich, aber auch dunkler als die ihrer Mutter.

Schau hinaus aufs Meer. Du siehst uns. Du spürst uns, Königstochter.

Elvira schaute nun hinaus aufs Meer, strengte ihre kleinen grünen Augen an, um etwas zu erkennen. Und tatsächlich. Im goldenen Schein der untergehenden Sonne sah sie drei menschenähnliche Schemen im Meer schwimmen. Nixen. Aber spüren konnte sie sie nicht. Natürlich nicht. Sie hatte keine Gabe. Sie war ein Nichts.

Oh das stimmt nicht, meine Süße. Du bist nicht ohne Gabe.

Erstaunt hob Elvira die Augen und starrte wie gebannt auf die drei Schemen. Drei Köpfe durchbrachen die Meeresoberfläche. Eine braunhaarige, eine blonde und eine rothaarige Nixe blickten sie an. Die letzte hatte die gleiche feuerrote Haarfarbe wie sie selbst.

Ja, wir hören, was du denkst. Wir fühlen, was du fühlst. Dein Geschlecht hat uns erschaffen und das Meerwasser schwimmt in deinem kostbaren königlichen Blut.

Wenn das Wasser in ihrem Blut war, warum war es dann nicht in ihrem Herzen? Warum konnte sie nicht einfach zu den Nixen schwimmen, in die Tiefen des Meeres untertauchen und die Welt unter dem Meer erkunden?

Weil du keine von uns bist. Du bist eine Aussätzige. Eine Abnormität, Königstochter. Lass dir von uns, Beschützer der Meere, gesagt sein: Du bist keine Herrscherin über das Wasser und so wirst du auch keine Herrscherin über das Reich deines Vaters sein!

Und mit diesen Worten tauchten die drei Nixen wieder unter und ließen Elvira und Killian alleine in den letzten Strahlen der Abendsonne zurück. Mit aufgerissenen Augen starrte Elvira auf die Stelle, wo sie vor wenigen Sekunden noch die Meerjungfrauen gesehen hatte. Das Wasser war eiskalt und sie zitterte am ganzen Körper. Als würde das Element sie nun endgültig abstoßen wollen.  

Nach diesem Vorfall war Elvira ohne ein Wort aufgestanden und zurück zum Schloss gestampft. Killian war ihr in einiger Entfernung ziemlich verdutzt gefolgt. Im Schloss angekommen kritisierte sie niemand wegen der nassen Kleidung. Das war normal in der Familie und bei der kleinen Prinzessin sogar wünschenswert, wenngleich jeder wusste, dass sie das Wasser nicht selbst heraufbeschworen hatte. Sie gingen ihr sichtlich alle aus dem Weg, in Furcht, sie könnte die Sorge und die Ablehnung in ihren Gesichtern sehen. Doch die Kleine beachtete niemanden, selbst Killian nicht. Zielstrebig lief sie mit ihren kurzen Beinen in ihr Zimmer, das in Meeresblau gestrichen und mit Möbel in verschiedenen Blautönen möbliert worden war. Frustriert ließ sie sich auf ihr Doppelbett fallen, nachdem sie die Tür mit Wucht zugeschlagen hatte. Bedingt durch die Schwere der Tür und die Kraft einer Sechsjährigen, ging sie aber nicht ganz zu und Killian lugte vorsichtig hinein. „Alles in Ordnung?“ fragte er, wissend, dass er keine Antwort erhalten würde. So ruhig Elvira manchmal sein konnte, so temperamentvoll war sie auch auf der anderen Seite. Anstatt also auf eine Antwort zu warten - geschweige denn auf die Erlaubnis einzutreten -, betrat er ihr Zimmer und ließ sich neben sie aufs Bett plumpsen.

„Ich bekomme manchmal Briefe.“, versuchte er es nun. Keine Reaktion. „Von meinem Vater. Manchmal auch von meiner Mutter.“ Immer noch nichts. „Ich kriege sie immer nur mit gebrochenem Siegel. In solchen Momenten vergesse ich für einen Moment, dass ich nicht freiwillig gekommen bin.“ Nun drehte sie den Kopf zu ihm und starrte ihn mit ihren blitzenden grünen Augen an. Ihr Haar stand ihr wild vom Kopf ab und fiel ihr teilweise strähnig ins Gesicht. „Sie vermissen mich. Fragen mich, wie’s mir geht. Ob alle lieb mit mir seien. Und ob ich auch genug Freunde zum Spielen habe.“ Er hatte nur Elvira. Sonst wollte niemand mit einem Jungen spielen, der keine Gabe hatte. „Ich habe noch nie geantwortet. Ich habe ihnen mal ein Bild gemalt. Dich und mich und wie wir zusammen im Garten spielen. Aber ich habe es nie abgegeben. Sie wirken so traurig, aber ich kenne sie nicht mal.“ Elvira setzte sich nun auf, spielte an ihrem Armband. „Aber wenn ich ihre Briefe lese – und das tue ich manchmal. Habe ich das Gefühl, dass Eltern so sein sollten. Sie schrieben nie etwas darüber, dass ich ihnen nicht antworte. Ich habe das Gefühl, dass sie mich wirklich liebhaben.“ Er sah sie an. Alles Kindliche war aus ihren Gesichtern verschwunden. Sie waren zu jung für diese Last, aber das interessierte niemand. „Und Mama und Papa sind nicht so. Sie fragen nie, ob es mir gut geht. Und sie sind immer enttäuscht.“, fing nun Elvira an. „Meinst du, sie haben mich nicht lieb? Weil ich nichts kann?“ Beide schwiegen. Das war Antwort genug. Bald darauf krochen sie unter die dicke Daunendecke. Unter der Decke starrten sich beide an und Killian setzte nun im Flüsterton fort: „Vielleicht würden mein Papa und meine Mama dich liebhaben. Vielleicht bist du bei mir Zuhause und nicht hier.“ Mit großen Augen schaute sie ihn nun an. „Du meinst, wir sollten zu deiner Mama und deinem Papa?“ nun flüsterte auch sie und ein zitternder, ängstlicher Unterton schwang in der Frage mit. Killian nickte nur. Sie schlossen die Augen, wandten sich voneinander ab und dachten beide über die Möglichkeit nach.

 

 

Wenige Tage später standen die beiden wieder am Strand. Der Unterricht war wieder zermürbend gewesen. Alle Mitschüler samt Lehrer hatten sie erwartungsvoll angestarrt, während sie wieder die Wasserschale kritisch beäugt hatte bis sie schließlich allesamt aufgegeben hatten. Ihre Mitschüler versteckten ihre Häme immer weniger und der Lehrer hatte die guten und tröstenden Worte aufgegeben. Elvira war wieder ins Arbeitszimmer ihres Vaters zitiert worden, wo auch ihre Mutter sie mit eiskaltem Blick beäugt hatte. Und nach der alltäglichen Predigt hatte Elvira ihren Entschluss gefasst. Sie lief in ihr Zimmer, räumte ihre Schultasche aus und stopfte sie mit Kleidung, ihrem Kuscheltier und ein paar Büchern voll, dann suchte sie Killian in der Bibliothek auf. Auch er hatte schnell gepackt und schlussendlich standen sie am Strand an der gleichen Stelle, wo die Nixen Elvira besucht hatten. „Was hast du vor?“ fragte Killian nun endlich, nachdem er ihr blind gefolgt war und kein Wort gesagt hatte. „Wir gehen wohin, wo man uns liebhat.“ Ihr Blick war ernst und sie starrte trotzig aufs Meer hinaus. „Mein Zuhause? Aber wir wissen beide nicht, wo das ist! Und wie sollen wir dahin kommen?“ Elvira hätte ihm am liebsten mit einem Kohlestück Fragezeichen ins Gesicht gemalt, so dämlich sah er gerade aus. Beinahe hätte sie gelacht. Doch stattdessen zeigte sie mit dem rechten Zeigefinger schnurstracks aufs Meer hinaus. „Aber die wissen es!“
Verständnislos blickte er sie an. Sie hatte ihm immer noch nicht erzählt, was vorgefallen war. „Kommt raus und zeigt euch! Ich brauche euch!“ schrie die Sechsjährige nun so laut sie konnte. Ihre zarte Stimme streckte sich nicht sonderlich weit aus. Und trotzdem dauerte es nicht lange, bis die Stimme wieder in ihrem Kopf erklang.

Wir gehorchen dir nicht, kleine Königstochter.

„Und trotzdem seid ihr hier!“ schrie Elvira erneut, damit Killian auch mitbekam, was abging. Der blickte sie aber weiterhin verwirrt an. Nicht sicher, was die salzige Meeresluft ihrem Verstand angetan hatte.

Es ist das Wasser. Das Wasser in deinem Blut, zischten nun alle drei. Es ist nichtsdestotrotz in deinem Blut! Was willst du, Kind?

„Bringt mich in sein Königreich!“ antwortete Elvira den Stimmen in ihrem Kopf und zeigte dabei auf Killian. Sie konnte die Nixen nicht sehen, wusste aber irgendwie, dass diese Meerwesen sie schon verstehen würden.

Warum sollten wir? Du bist nicht unsere Herrscherin. Und wir werden nicht gegen unseren Herrscher gehen, kleine Königstochter.

Tränen sammelten sich in dem Gesicht des kleinen Mädchens. Die ganze Last, die sie trug: die erfolglosen Versuche, den Wünschen ihrer Eltern gerecht zu werden. Die Strafen, die ihr auferlegt wurden, wenn sie zu aufbrausend war, sich nie so ruhig und bewusst benahm wie das Wasser. Diese ganzen Blicke, das Getuschel, diese ganze aufgestaute Wut auf sich selbst, weil sie einfach nie gut genug sein würde! „Ich bin keine Königstochter und ich werde auch keine Herrscherin sein. Ich bin eine Last. Bin ich erst weg, werden Mama und Papa jemand anderen finden. Jemand besseres.“ Sie ballte ihre Hände zu Fäusten, versuchte, ein Schluchzen zu unterdrücken, konnte es aber nicht mehr zurückhalten. Der Kloß in ihrem Hals löste sich und Tränen brachen aus ihr heraus. Sie heulte ihr ganzes Leid aus dem Herzen bis zarte kleine Finger langsam ihre fest zusammengekrallte Faust lösten und ihre Hand nahmen. Sie blickte mit tränenüberströmtem Gesicht zu Killian und er schaute sie mit einem aufmunternden Lächeln an. Doch die Nixen schwiegen. Sie standen noch eine Weile dort auf dem Strand, beide ihre Taschen um ihre Schultern und so langsam versiegten ihre Tränen. Plötzlich stiegen in einiger Entfernung im Meer Blasen auf bis etwas Flaches zur Oberfläche stieß. Wie durch Magie trieb das Stück schneller als die Wellen es tragen könnten ans Ufer. Es war ein ziemlich starkes Holzverdeck, verkrustet und mit Seeigeln bedeckt.

Steigt auf. Wir bringen euch in das Land ohne Gaben.

Sie reisten den ganzen Nachmittag bis in die Nacht hinein. Das Holzverdeck schaukelte unablässig und die Meerjungfrauen gaben sich keine Mühe, etwas daran zu ändern. Es schien ihnen schlichtweg egal zu sein. Nachdem die Nacht schon längst hereingebrochen war, wurde Killians Gesicht stets eine Nuance grüner. Neben dem Holzverdeck schwammen die Nixen unter Wasser. Während anfangs noch die Reflektionen des Sonnenlichts gelegentlich einen Blick auf die geheimnisvollen Meereswesen ermöglichten, so erschienen sie nun im Mondlicht nahezu gespenstisch und gruselig. Elvira bekam stets eine Gänsehaut, wenn sie auf die grau-weiß schimmernden Körper hinabsah. Auch Killian schien sich zu fürchten, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. Der Grünton in seinem Gesicht reichte ihm wohl schon. Abwechselnd nickten sie auf ihrem schwimmenden Untersatz ein, während das Mondlicht ihnen wie ein schützendes Licht folgte.                                                                                
Als Killian schlief, betrachtete Elvira ihre Umgebung. Überall wohin sie sah, war Wasser. Wie eine dunkle gefährliche Masse erstreckte es sich auf allen Seiten aus, bis es den ebenso dunklen Himmel berührte. Nur das Mondlicht ermöglichte es, zu erahnen, wo das Meer endete und der Nachthimmel begann. Elvira war nie so bewusst gewesen, wie mächtig das Element ihrer Familie war. Welche Macht sie besaßen. Und gleichzeitig wurde ihr bewusst, wie schwach und machtlos sie war. Ohne Gabe und ohne Familie. Sie könnte hier auf dem Meeresboden ertrinken und es würde keinen Unterschied machen.                               
Sie zog die Beine eng an den Körper und schlang ihre Arme um ihre Knie. Die Kälte fraß an ihrer feuchten Kleidung. Sie zitterte nun schon so lange, dass ihre Finger taub waren und sie das Zittern selbst schon längst ausgeblendet hatte. Während sie so dasaß, wurde ihr plötzlich bewusst, was sie getan hatte. Sie hatte ihre Eltern verlassen in der Hoffnung, dass Killians Eltern sie lieben würden. Aber wer konnte von ihnen verlangen, dass sie ein fremdes Kind mögen würden? Immerhin haben ihre Eltern Killian auch nie ihr Wohlwollen gezeigt. Was wäre, wenn sie ihnen nicht hübsch genug wäre? Nicht redegewandt und klug genug? Würden sie überhaupt mit ihr reden wollen? Schreckliche Angst überfiel sie und zum ersten Mal fühlte sie sich wie das, was sie war: ein hilfloses kleines Mädchen. Ein erneuter Tränenfluss löste sich von ihren Augen und leise in die Knie schluchzend ergab sie sich ihrem Schicksal, in der festen Überzeugung, eh in diesem unendlichen Wasser zu ertrinken.

Kleines… Streck deine Hände ins Wasser.

Die Stimme der Frau wieder. Seit Stunden hatten die Nixen nicht mit ihnen gesprochen. Die beiden Kinder waren ihnen doch völlig egal. Und dennoch hob sie, dem kindlichen Glauben verfallen, den Kopf. Überrascht blickte sie in das sommersprossige Gesicht der rothaarigen Nixe. Diese legte nun den Kopf schief und starrte sie mit ihren meeresblauen Augen an.

Vertrau mir. Streck deine Hände ins Wasser.

Und Elvira gehorchte ihr. Sobald sie ihre Finger ins Wasser getaucht hatte, kribbelten diese. Das Wasser fühlte sich eiskalt an, als sie jedoch auch ihr Handgelenk eintauchte, spürte sie die wohltuende Wärme. Die Nixe schien eine warme Strömung gefunden und zu ihr gebracht zu haben.

Oh du mutiges kleines Ding… Bald sind wir da. Bald bist du in Sicherheit.

Von der ungewohnten Wärme und Freundlichkeit eingelullt, nickte Elvira noch im Sitzen ein.

Als Elvira wach wurde, stieg die Sonne gerade in einem hellen warmen Schein über das Meer hinweg. Inzwischen lag sie auf der Seite, eine Hand unter die Achsel geschoben, die andere immer noch ins Wasser getaucht. Killian saß neben ihr, wie sie schlaftrunken bemerkte. Als sie sich aufrichtete, sah sie, dass das Grün aus seinem Gesicht verschwunden war. Dafür waren seine Lippen blau. Er hatte fast die ganze Nacht in der Kälte geschlafen. Besorgt zog sie die Hand aus dem Wasser, das wieder kalt war, und suchte nach der rothaarigen Nixe. Doch neben ihnen schwammen nur noch zwei der Meerwesen und keine schien rote Haare zu haben, soweit Elvira das erkennen konnte. Kurz entschlossen zog sie ihn in ihre Arme und versuchte sein Zittern mit ihrer klammen Kleidung zu wärmen. Gerade als sie ihn zu sich zog und über seine Schulter sah, erblickte sie auch den Landstreifen am Horizont. „Ist es das?“ fragte sie nun verblüfft in die Stille hinein. Killian löste sich von ihr und blickte ebenfalls hinter sich, doch sie bekamen keine Antwort. Wieder aneinandergeklammert starrten sie nun dem Landstreifen entgegen und schwiegen. Irgendwie schien ihre Reise nur aus Schweigen zu bestehen. Sie waren zu geschockt von ihrem Handeln und ihrer Entscheidung, dass sie einfach drauflos plappern konnten. Als die Sonne eine Weile weitergewandert war, aber immer noch nicht im Zenit stand, war der Landkreis endlich größer geworden und beanspruchte fast den gesamten Horizont vor ihnen. Sie konnten sogar schon die Turmspitzen eines Schlosses erkennen, das nicht in allzu weiter Ferne zu sein schien. Nicht viel später stieß das Holzverdeck schon ans Ufer und Killian lief freudig auf den Strand, fiel aber nach wenigen Schritten schon mit wackligen Beinen auf die Knie. Elvira blieb noch kurz sitzen und starrte die beiden Schemen an, die weiter im Meer hinaus zu erkennen waren. „Danke“ flüsterte sie und stand langsam auf.

Komm nie wieder, Kleine ohne Gabe, war die Antwort der übriggebliebenen Nixen.

 

 

Hatten sich ihre Beine erstmal an festen Boden gewohnt, wanderten die Kinder schon den Strand entlang Richtung der Ansammlung an Häusern vor ihnen. Es war wieder ein kleiner anstrengender Fußmarsch nötig, bis sie den Stadtrand erreichten. Ihre kleinen kurzen Beine brannten, sie hatten Hunger und waren durstig. Beide sehnten sich nach ihren weichen Betten und ihren Kuscheltieren, was keine der beiden natürlich je zugeben würde. Es dauerte auch nicht lange bis eine Frau die Kinder bemerkte, die aussahen, als wären sie gerade vom Meer angespült worden. „Wo kommt ihr denn her? Und wo sind eure Eltern?“ fragte sie, stemmte ihre Hände in ihre schmalen Hüften und starrte auf die beiden Trauerklöße hinab. „Wir müssen zum Schloss!“ krächzte Killian, dann gaben seine Beine nach und er zog Elvira, die er an der Hand hielt, ebenfalls zu Boden. Das war auch das letzte, das sie sahen, bevor alles schwarz wurde wie das Meer in der Nacht.

 

 

„Völlig dehydriert.“

„Ausgehungert!“

„Wer tut seinen Kindern nur sowas an?!“

„Glaubt ihr, der Bengel hat die Briefe gestohlen? Er sieht nicht sonderlich aus wie unser Prinz.“

„Weil der Prinz noch ein Baby war, als er ausgehändigt wurde!“

„Stimmt auch wieder, jetzt wo du’s sagst, Marie-Anne.“

Elvira öffnete langsam ihre Augen. Sie fühlte sich nach dem Nickerchen etwas wacher. Und nicht mehr so durstig. Langsam richtete sie sich auf und blickte auf die Erwachsenen um sie herum. Sie selbst lag auf einem Bett. Das war vielleicht nicht so weich, aber besser als ein Holzverdeck. Als sie nach links blickte, erkannte sie Killian, der nun auch so langsam wach wurde. In ihrem Blickfeld sah sie nun auch einen Nachttisch neben ihrem Bett, das mit Brot, geschnittenen Apfelstücken und einem Krug voll Wasser gedeckt war. Sofort griff sie hungrig nach dem Brot und riss sich ein großes Stück davon ab. „Iss nur, mein Kind.“, ermunterte die Frau Elvira, die sie auf der Straße aufgegabelt hatte. Noch das Brot zerkauend, schob sich Elvira ein Apfelstück hinterher. Als sie das Wasser nahm, es an ihre Lippen führte und anfing zu trinken, merkte sie, wie die Trockenheit in ihrem Mund, die sich über die ganze Reise hinweg vergrößert hatte, langsam verschwand und sie mit einem wohligen satten Gefühl zurückließ. Tatsächlich hatten sie bei ihrer grandiosen Flucht vergessen, etwas zu essen zu stibitzen. Aus den Augenwinkeln heraus sah sie, dass auch Killian sich mit dem dargebotenen Essen stärkte.    
Nachdem sie sich sattgegessen hatten, schienen die Erwachsenen nun neugierig auf ihre Worte zu warten. Als die Kinder kein Wort herausbrachten, ergriff die schlanke Frau mit einer auffallend kartoffelartigen Nase wieder die Initiative: „Mein Junge, wie heißt du?“. In ihrem Blick sahen die Kinder offenes Interesse, die Winkel um ihren Mund zeigten aber, dass sie auch Mitleid empfand. „Killian.“ antwortete Killian langsam. Die Erwachsenen schauten sich an, unsicher, ob sie den Kindern glauben sollten. „Sind wir hier in dem Land ohne Gaben?“ fragte Elvira nun vorlaut und mit kindlicher Neugier. Schlagartig wurden die Gesichter der Fremden feindseliger, grimmiger. „Wir nennen unser Land L’Am-Ron. Aber das heißt wohl, dass du aus Shaka-Ul bist.“

 

 

Killians Anwesenheit und die Briefe seiner Eltern, die er aus emotionalen Gründen vor der Abreise eingesteckt hatte, bewogen die Dorfbewohner dazu, sie mit zum Schloss zu nehmen. Dort angekommen, wurden sie dem König und der Königin vorgeführt. Ein prachtvolles Paar, das gemeinsam auf zwei Thronen saß. Der Mann war schlank und von hoher Gestalt. Dunkelbraunes Haar und ein dunkelbrauner Vollbart gaben ihm ein freundliches und gutmütiges Aussehen. In der Königin erkannte Elvira die Ähnlichkeit zu Killian. Die wohlgerundete Frau hatte pechschwarzes gewelltes Haar und die gleichen Augen wie Killian. Als Killian und Elvira mit verängstigten Stimmen hervorbrachten, wer Killian wirklich war, ließ die Königin den Saal schnellstens räumen, dann folgten die Kinder dem Königspaar in einen kleineren, aber nicht weniger schmuckvollen Raum ganz in der Nähe des Saals. Er war gefüllt mit Bücherregalen und Relikten verschiedener Formen und Größen. Zwischendurch blitzte sogar der eine oder andere Sessel hinter den Regalen und Vitrinen hervor. Als sie dort ankamen, reichte Killian seinen Eltern schweigend die Briefe. Sie erkannten das Siegel und ihre Handschrift, blickten dennoch ungläubig auf ihren Sohn hinab. Dann schienen sie mit ihren Augen etwas zu suchen, bis diese an seinem Handgelenk haften blieben. „Das Armband, Schatz…“ flüsterte die Königin und ohne abzuwarten schloss sie ihren Jungen in die Arme. Elvira verstand es erst, nachdem sie sein Armband zum ersten Mal genauer ansah. Es bestand aus grau-schwarzen Perlen, die mit Kratzern und gelegentlich feuerroten Perlen verziert waren. Lavasteine. Es sollte seine Herkunft deutlich zeigen. Auch Elvira besaß ein Armband. Es bestand aus meeresblauen Perlen. Sie hatte es noch nie gemocht. Während sie über das Armband nachdachte, hatte sie gar nicht gemerkt, dass Killian schon längst von ihrer Reise erzählt hatte. Wobei er kein Geheimnis daraus gemacht hatte, wer sie war. Als sie nun in die Augen des Königspaares blickte, erkannte sie eine Mischung aus Furcht und Mitleid. Augenblicklich fühlte sie sich kleiner als sie es eh schon war. Sie würden sie zu ihren Eltern zurückschicken. Sie war hier nicht willkommen. Sie wollten mit ihrem Sohn alleine sein. Und zuhause würde sie wohl eine unvorstellbare Strafe erwarten. Während diese Ängste und Gefühle sich kratzend und stechend einen Weg zu ihrem Hals hochbahnten, sank das Königspaar langsam auf die Knie. Beide streckten ihre Arme aus und während der König vorsichtig Elvira zu sich zog, machte die Königin das gleiche mit ihrem Sohn. Nah an den Eltern Killians dran, wurden die beiden in eine feste Umarmung gezogen. 

 

 

Drei Wochen waren vergangen, seit Elvira und Killian ins Königreich L’Am-Ron gekommen waren und Killians Eltern kennengelernt hatten. Nachdem sich die Familie wiedergefunden hatte, hatte Killian ihnen stolz seine Zeichnung von sich selbst und Elvira überreicht und sich dafür entschuldigt, nie geantwortet zu haben. Sie hatten ihm verziehen. Und Elvira hatten sie erlaubt, das Königspaar beim Namen zu nennen: Remus und Lilianne. Drei Wochen war das her und Elvira war so glücklich wie noch nie. Niemand fragte sie nach ihrer Gabe, niemanden schien es zu interessieren. Remus und Lilianne behandelten sie wie ihr eigenes Kind und sie hatte Killian noch nie so viel lachen sehen, wie er es jetzt tat. Täglich spielten sie miteinander, hatten zusammen Unterricht – welcher zu ihrer Freude keine Magie enthielt – und malten zusammen. Gelegentlich lief Elvira noch Leuten über den Weg, die sie mit Furcht und Ärgernis betrachteten. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, auch nicht, weswegen die Bediensteten manchmal in den Ecken standen und leise ihren Namen sagten. Doch ihre Freude über ihr neues Zuhause überwiegte diese Zwischenfälle.

 

An einem schönen Nachmittag spielte sie mit Killian zusammen Fangen. Elvira lief gerade in den Raum voller Relikte, den sie bei ihrer Ankunft kennengelernt hatte, als sie gegen einen der Tische stieß. Nur mit Mühe konnte sie die herausfallenden Brocken auffangen. Sie wollte sie schon gedankenverloren zurück in die Schüssel legen, die die Brocken aufbewahrt hatte, wurde dann aber vom Aussehen dieser seltsamen Steine gefesselt. Sie waren so schwarz wie Killians Armband und hatten ebensolche Risse und Kratzer. Und obwohl es bloß große Steine waren, hatten sie eine außergewöhnliche Form. Weder richtig rund noch richtig felsig. Mit ihrer Hand strich Elvira über einen der Steine. Er fühlte sich warm an. Als sie jedoch einen der anderen berührte, war er eiskalt. Wie es sich eigentlich für Steine gehörte.
„Dracheneier.“ ertönte plötzlich hinter ihr eine Stimme. Erschrocken drehte Elvira sich um, fühlte sich ertappt, und ihr fielen zwei Steine von den vollgepackten Armen. Lilianne fing die beiden herunterfallenden Eier mit Geschick auf und legte sie zurück in die Schüssel. „Dracheneier? Eier sehen aber nicht aus wie Steine!“ erwiderte Elvira mit einem Stirnrunzeln. Lilianne lachte kurz. „Da hast du recht. Aber goldene eierförmige Dracheneier könnte ja jeder dahergelaufene Dieb entdecken und einfach stehlen. Nein. Diese Eier bewahrten die Drachen lange Zeit davor, auszusterben.“ Sanft strich sie über eins der Eier. „Aber warum sind sie dann ausgestorben? Und wenn sie ausgestorben sind, warum habt ihr hier noch Eier liegen?“ sprudelte es aus Elvira heraus. Ihre Neugierde war geweckt worden und nun war es ihr egal, ob Killian sie fangen würde. „Diese Eier sind tot. Nicht mehr als eine Erinnerung an die vergessenen Zeiten, aber das solltest du deinen Lehrer fragen. Es ist weder der angemessene Zeitpunkt noch der angemessene Rahmen, um über die traurige Geschichte unseres Landes zu sprechen.“ Sie legte die Eier zurück in die Schale, tätschelte kurz Elviras Kopf und verließ dann den Raum. Elvira blieb mit den Armen voll Dracheneiern verdutzt stehen. Nachdem sie eine Weile nachgedacht hatte, legte sie die Eier zurück, versteckte aber heimlich eins unter ihrem Hemd.

 

 

Ein ohrenbetäubender Glockenschlag ertönte und Elvira fielen vor Schreck die Karten aus ihrer Hand. Wütend blickte sie zur Decke hinauf. Durch diese Störung wusste Killian jetzt, welche Karten sie hatte und würde gewinnen! Aber auch er hielt inne, nutzte nicht mal die Gunst der Stunde, sondern wartete. Seine Gelassenheit beruhigte sie und auch sie wartete ab. Ein erneuter Glockenschlag, dreimal wurde durch ein Horn geblasen. Sie hatten im Unterricht gelernt, was das bedeutete. Ein Angriff stand bevor.                                                      
Kurz darauf stürzte eine Bedienstete des Schlosses in Killians Zimmer, wo sie immer wieder miteinander spielten. „Kleiner Prinz! Elvira! Schnell! Sie kommen!“ schrie sie hektisch, griff nach den Händen der Kinder und zog sie mit sich durchs Schloss. Die beiden waren so mit Laufen beschäftigt, dass sie kein Wort herausbrachten. Sie konnten nur keuchen und schwitzen, sowie die Schreie und das Stampfen etlicher Füße vernehmen. Entfernt konnte Elvira sogar das Meeresrauschen hören, was normalerweise nicht der Fall war. Irgendwann schienen sie ihr Ziel erreicht zu haben. Sie waren im untersten Teil des Schlosses angelangt. Das Kellergewölbe, wo Elvira und Killian nie spielen durften, da es anscheinend nass und kalt war und sie sich wehtun könnten. Nun standen sie dort und die Bedienstete öffnete eine schwere Tür, die sie vorher mit einem Schlüssel geöffnet hatte, und drückte die Kinder hinein. Endlich konnten sie Luft holen und rangen sichtlich um Atem. „Wer kommt?“ fragte Elvira nun keuchend, die Hände auf die Knie stützend. Sie schaute sich nicht mal in dem Raum um.

„Deine Eltern!“

 

Die Kinder hörten Kampfgeräusche, nur gedämpft, aber sie waren dennoch zu hören. Die Bedienstete hatte die beiden Kinder in einen Art Sicherheitsraum gebracht. Zumindest hatte sie das so erklärt. Dann war sie verschwunden, um die anderen Kinder im Schloss einzusammeln und herzubringen. Seitdem war sie nicht mehr wiederaufgetaucht und Elvira wusste nicht, wieviel Zeit seitdem vergangen war. Der Raum selbst war, für einen Keller, gemütlich eingerichtet. Sessel, ein paar Feldbetten, Bücherregale und eingelegtes Trockenfleisch sowie ein Fass mit frischem, kühlem Wasser. Elvira und Killian saßen zusammen auf einem der Betten, hörten das Meer tosen und die Menschen über ihnen schreien und kämpfen. „Es tut mir leid“, murmelte Elvira nun von Schuld zerfressen. Doch Killian schüttelte bloß den Kopf und ergriff ihre Hand. „Es war doch meine Idee…“, nuschelte er. Elvira erwiderte den Händedruck und schwieg. Sie hatten eine schöne Zeit gehabt. Und sie wusste endlich, wie es sich anfühlte, geliebt und umsorgt zu werden. Für wunderschöne drei Wochen hatte sie ihrem Leben entfliehen können. Mit ihrer freien Hand griff sie in ihre Umhängetasche, die sie andauernd mit sich trug, und tätschelte das Drachen Ei, das sie gestohlen hatte. Sie wusste, dass es tot war, aber es bereitete ihr Trost. Allerdings hatte sie selbst Killian von ihrem Diebstahl nichts erzählt, zu sehr schämte sie sich.                                                               

Während sie so dasaßen, drangen plötzlich Geräusche an ihre Ohren, die deutlich näher waren als die bisherigen. Es dauerte nicht lange bis plötzlich ein ohrenbetäubender Lärm an der Tür erklang. Die Kinder versteckten sich schnell hinter zwei Sesseln. Angst zerfraß sie. Elvira wusste, was auf sie zukommen würde, allerdings fürchtete sie sich darum, was ihre Eltern ihrem Freund antun könnten. Mit schreckensgeweiteten Augen blickte sie zum Sessel nebenan, hinter dem Killian kauerte. Er schaute zurück und mit ihren Lippen formulierte sie noch ein „Es tut mir leid“, bevor die Tür in Stücke zersplitterte und Soldaten ihrer Familie in den Raum stürzten.

 

Elvira war von Killian getrennt worden. Beide Kinder wurden einfach ergriffen und fortgezerrt. Sie wehrte sich so gut es ging, doch sie war machtlos. Beißen, kratzen, schreien, nichts hat geholfen und sie musste mit ansehen, wie Killian in eine andere Richtung verschwand. Gewaltsam wurde sie durchs Schloss gezerrt, jenes Schloss, das ihr endlich wie ein Zuhause vorgekommen war. Als sie schlussendlich wieder im Thronsaal angelangt waren, wo Elvira das erste Mal Remus und Lilianne begegnet war, saß ihre Vater schon auf einem der beiden Throne. Er wirkte erhaben, beinahe schon arrogant, wie er dort saß und auf seine Tochter hinabblickte. „Da haben wir ja den kleinen Ausreißer.“ dröhnte seine Stimme durch den großen Saal. Endlich ließ man sie los und sie stürzte vor dem Thron auf die Knie. Ohne um Erlaubnis gefragt zu haben, liefen ihr wieder Tränen übers Gesicht. Sie ärgerte sich selbst für ihre Reaktion. „Dachtest du wirklich, du und der kleine Bastard könnten abhauen? Dachtest du wirklich, du könntest dich vor deinen Pflichten als zukünftige Königin drücken und mich vor meinem gesamten Königreich bloßstellen, indem du zu diesen Schwächlingen flüchtest?“ Sie wusste nicht, was „Bastard“ bedeutete, aber so wie ihr Vater es ausspie, schien es eine Beleidigung zu sein. Und das machte sie wütend. Sie spürte das Ei in ihrer Tasche zittern, als würde es ihre Gefühle teilen. Immer noch saß sie regungslos am Boden und ließ ihren Tränen freien Lauf. In ihren Augenwinkeln nahm sie wahr, wie eine Schale mit Wasser herangetragen und vor sie hingestellt wurde. „Dann schauen wir mal, ob dieser kleine Ausflug wenigstens dazu nütze war, deine Gabe zu entfalten. Beweg das Wasser, wenn du das hinkriegst, vergebe ich dir und der Königsfamilie euren kleinen Fehlschlag, solltest du nicht…“ den Rest ließ ihr Vater unbeantwortet. Elvira wischte sich die Tränen vom Gesicht, setzte sich aufrecht hin und griff kurz in ihre Tasche, um über das Ei zu streicheln. „Bitte hilf mir!“ flüsterte sie dabei flehentlich, dann richtete sich ihr Blick auf die Wasserschale und sie sammelte all ihre Konzentration, um ihrem Vater endlich zu zeigen, dass sie es wert war. Doch es brachte nichts. In ihr tobte ein Feuer. Sie bekam Killian und seine Eltern nicht aus ihrem Kopf. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und ihre Hände fingen an zu zittern. Doch das Wasser blieb still und auch um sie herum war es still. Sie fühlte sich wieder, als wäre sie im Unterricht, nur dass ihr Versagen diesmal Folgen haben werden. Wieder konzentrierte sie sich auf das Wasser, hob ihre Hände an und richtete sie auf die Schale. Aber das Feuer in ihr flackerte auf, brannte sie von innen nieder und sie ließ enttäuscht die Hände sinken. Sie würde es niemals können.

„Das war ja klar gewesen. Führt sie ab. Wir fahren nach Hause.“

 

            Zurück in Shaka’Ul angekommen, wurde Elvira in ihr Zimmer gesperrt. Sie war immer noch nicht untersucht worden und so steckte das Drachen Ei immer noch in ihrer Umhängetasche. Killian hatte sie auch nicht wiedergesehen und sie hatte schreckliche Angst davor, was mit ihm und seinen Eltern geschehen würde. Sie nahm das Ei aus ihrer Tasche und krabbelte unter ihre Bettdecke. Dort schlief sie mit dem Ei in fester Umarmung ein. Als sie später aufwachte, war es draußen schon dunkel geworden. Sie war durch das laute Klopfen an ihrer Tür aufgewacht und rasch versteckte sie das Ei wieder in ihrer Umhängetasche und legte sie sich um ihre Schulter. Sanft spürte sie die Wärme des Eis an ihrem Bein. Dann wurde die Tür schon aufgestoßen und zwei Wachen kamen herein. „Dein Vater wünscht dich zu sprechen.“ sagte einer von ihnen und verzichtete auf irgendwelche Höflichkeitsformen. Der andere hingegen streckte ihr die Hand aus: „Komm!“. Sie ergriff seine Hand, streckte dem anderen die Zunge raus und ließ sich zu ihrem Vater führen. Sie musste durch einige Gänge gehen und viele Treppen hinuntersteigen, bis sie im Kellergewölbe ankamen. Sobald sie das Kellergewölbe betrat, hörte sie schon Schreie und das Ächzen von Menschen. Sie griff die Hand der einen Wache fester und presste ihre Umhängetasche an sich. Er blickte nur mitleidig auf sie hinab und wandte sich seinem Kollegen zu: „Müssen wir wirklich?“. Elvira hörte Zweifel in seiner Stimme und fragte sich, wovon er eigentlich sprach. Dann starrte sie zu der anderen Wache hoch, die ihr keines Blickes würdigte. „Ja, wir stellen die Erziehungsmethoden des Königs nicht in Frage.“ erwiderte er nun knapp und schweigend gingen sie weiter. Irgendwann blieben sie vor einer verschlossenen Tür stehen. Der böse Wächter klopfte kurz an und öffnete sie dann. Elvira wurde hineingeschubst, hinter ihr nahm sie wahr, wie der freundliche Wächter die Tür schloss und sich hinter sie stellte. Sie schaute sich um. Der Raum war gefüllt mit seltsamen Bänken und Geräten, an denen Eisenketten, Messern und sonstiges grausiges Zeug hing. Sie wusste was das alles war. Dinge, um Menschen wehzutun und die Angst überfiel sie eiskalt, als sie ihren Vater mitten im Raum stehen sah. Dann fiel ihr Blick auf etwas zu seinen Füßen auf. Dort lag ein Knäuel roter Haare und einem riesigen rotschuppigen Fischschwanz. Ihr Atem stockte, sie schauten nochmal genauer hin und die roten Haare bewegten sich. Nun blickten ihr die meeresblauen Augen der sommersprossigen rothaarigen Nixe ins Gesicht. Sämtliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Sie hatte blutunterlaufene Augen, der Oberkörper war zerschrammt und mit blauen Flecken übersät. Der Fischschwanz fast völlig ausgetrocknet. Elvira wollte zu ihr laufen, ihr etwas sagen, sich entschuldigen, aber sie kannte nicht mal ihren Namen und bevor sie losrennen konnte, spürte sie schon die Hand der Wache auf ihrer Schulter. Sie schluckte schwer, spürte schon wieder aufsteigende Tränen und sah dann ihrem Vater in die Augen. „Papa…?“ fing sie an, doch er schnitt ihr sofort das Wort ab: „Ich habe mir größte Mühe gegeben, geduldig zu sein und Nachsicht zu zeigen. Und so hast du es mir gedankt? Du hast meine Nixen gezwungen, dich wegzubringen – gegen ihren Willen – hast dieser Nixe hier den Kopf verdreht, so dass sie dich nicht verraten wollte bis wir ihre Schwestern gefunden haben, bist in das Königreich geflüchtet, das mich nicht als rechtmäßigen Herrscher anerkennen wollte und hast ihnen auch noch den Sohn zurückgebracht, den ich ihnen genommen habe, damit sie nicht auf dumme Ideen kommen. In deinem Alter hast du keine Gabe und du hast es auch noch fertiggebracht, meine gänzliche Autorität zu untergraben! Sosehr ich auch enttäuscht von dir bin und mir wünschen würde, dass du ein besseres Kind wärst. Ich kann dir trotzdem nicht wehtun. Aber du sollst mit eigenen Augen ansehen, welche Konsequenzen dein Ungehorsam nach sich zieht. Du sollst lernen, dass dein Handeln als Prinzessin Folgen haben, die schwerwiegender sein können, als du anfangs vielleicht dachtest. Sieh das hier als eine Lehre und als ein Willkommensgeschenk für deine Rückkehr.“ Wie aufs Stichwort traten nun hinter ihr zwei weitere Wachen hinzu, ergriffen die Meerjungfrau an ihren Armen und zogen sie zu einer der Bänke, wo sie festgeschnallt wurde. Sie leistete keinen Widerstand, blickte lethargisch auf Elvira hinab und gab keinen Ton von sich. Nachdem sie festgeschnallt wurde, kam eine vermummte Gestalt in den Raum und griff sich ein mittelgroßes Messer von einem Tisch. Es sah weder sauber, noch richtig scharf aus, trotzdem ging er mit dem Messer bewaffnet auf die Meerjungfrau zu. „So, kleine Nixe. Du hast dich geweigert, deinem König zu gehorchen und bisher kein einziges Wort gesprochen. Erweise uns nun die Ehre und teile meiner Tochter wenigstens deinen Namen mit.“ richtete ihr Vater das Wort an die Meerjungfrau. Diese starrte Elvira nun mit ihren trüben, schmerzerfüllten Augen an. Elvira spürte, wie innerlich etwas zerbrach, als sie diese Augen sah. Doch ihre Lippen bewegten sich nicht. Der Kerkermeister setzte das Messer nun zum ersten Schnitt an. Als er tief hineinschnitt, kam kein Laut über ihre Lippen. Erst als er anfing, ihre Haut langsam von ihrem Körper zu ziehen, kniff sie die Augen zusammen, bäumte sich auf und schrie dermaßen laut auf, dass Elvira dachte, ihre Ohren würden kaputt gehen. Dann blickte die Meerjungfrau sie wieder an, ihr Blick heftete sich fest an den ihren. Beim nächsten Schnitt schrie sie ihren Namen heraus: „Daaaaphneeee!“                              
Elvira würde diesen Namen nie wieder in ihrem Leben vergessen.

 

 

Ihr Vater hatte sie gezwungen, bei der ganzen Häutung zuzusehen. Die Wache hinter ihr hielt sie fest, aber mehr, damit sie nicht umfiel und weniger, um sie wirklich zum Bleiben zu zwingen. Ihr wurde beim Zusehen schlecht, sie musste sich mehrfach übergeben und fiel zweimal in Ohnmacht, wobei die Schreie von Daphne nicht abebbten. Daphne selbst fiel mehrere Male in Ohnmacht, übermannt vom Schmerz und von ebendiesem wieder zurückgeholt. Als der Kerkermeister fertig war, deutete der König mit einer Handbewegung an, Elvira aus dem Raum zu führen. Gerade als sie sich umdrehte, sah sie noch, wie der Kerkermeister die blutverschmierten Hände an seinem schwarzen Gewand abtrocknete und dann zu seiner Axt griff. Sie erschauderte beim Gedanken daran, was er vielleicht vorhatte. Sie wurde zurück in ihr Zimmer geführt, wo sie alleine gelassen wurde. Elvira schaffte es nicht mal auf ihr Bett. Sie sank noch an ihrer Tür gelehnt zu Boden und brach in unkontrollierte Weinkrämpfe aus. Schluchzer durchschüttelten sie, die Tränen liefen in Strömen ihre Wangen hinab. Sie kramte das Ei aus ihrer Tasche, umklammerte es mit all ihrer Kraft und benetzte es mit ihren Tränen. Sie vermisste Killian, sie vermisste Lilianne und Remus. Ihre Umarmungen und liebevollen Worte. Sie versuchte krampfhaft, Daphnes Schreie und das ganze Blut aus dem Kopf zu kriegen, aber sie konnte es nicht. Bei jedem weiteren Erinnerungsschub brach sie erneut in Tränen aus, bis sie erschöpft auf dem Ei zusammenbrach.

 

 

Als sie zu sich kam, war es immer noch dunkel. Oder schon wieder? Sie wusste es nicht. Jedenfalls rappelte sie sich auf, versteckte das Ei wieder in ihrer Tasche und ging zu einer Wasserschale, die auf einer Kommode mit einem Spiegel stand. Sie wusch sich das Gesicht ab und blickte ihr Spiegelbild an. Doch sie sah nicht wirklich sich selbst, sondern eher Daphne bevor ihr Vater sie gefunden hatte. Sie waren nicht mal befreundet gewesen. Sie hatte ihr nur geholfen und musste dafür so leiden. Wieder musste Elvira weinen und inzwischen schämte sie sich nicht mehr dafür. Es dauerte nicht lange und es klopfte wieder an ihrer Tür, doch diesmal war es eine Bedienstete die eintrat. „Ihr Vater ruft Sie zu einem späten Abendessen.“ sprach die Dienerin und wartete dann schweigend an der Tür. Elvira wischte sich den Rotz vom Gesicht und stand auf. Sie hatte zu viel Angst vor ihrem Vater, um sich seinen Befehlen zu widersetzen. Aber ihr Ei nahm sie mit. Es war das einzige, das ihr noch von L’Am-Ron geblieben war.

 

Sie wurde ins Speisezimmer geführt, denn alleine hätte sie den Saal in dem ganzen Wirrwarr an Gängen niemals gefunden. Auch war sie mit den Gedanken immer noch bei Daphne. Als sie den Raum betrat, fiel ihr das Abendessen sofort ins Auge. Ein riesiger Fischschwanz thronte auf mehreren Silbertabletten. Unter der Bratensoße und den Gewürzen konnte Elvira die rötlichen Schuppen erkennen. Sie blieb kerzengerade stehen und starrte mit schockgeweiteten Augen auf den Schwanz. „Wie ich sehe, hast du den Weg gefunden. Setz dich, Elvira, deine Mutter und ich warten schon!“ hörte sie ihren Vater vom Kopfende des Tisches auszurufen. Als würde man sie mit unsichtbaren Fäden steuern, ging sie auf den Esstisch zu und setzte sich auf ihren üblichen Platz. Ihr gegenüber saß ihre Mutter. Sie ließ ihren Blick auf Elvira ruhen und das erste Mal erkannte das Mädchen keine Enttäuschung und Gleichgültigkeit, sondern Mitleid. „Diener! Schneidet das Essen an! Wir haben Hunger!“ Sofort kamen zwei Diener zum Tisch und leisteten dem Befehl des Königs Folge. Den drei Familienmitgliedern wurde jeweils ein Stück gereicht. Etwas anderes gab es nicht. Elvira starrte auf ihre Portion und spürte Übelkeit in sich hochsteigen. Sie hatte überhaupt nichts mehr im Magen. Sie spürte den Blick ihres Vaters auf sich brennen und schaute hoch. „Iss.“ sagte er nur mit ruhiger Stimme und starrte sie weiter an. Doch sie schüttelte den Kopf, sie brachte nichts runter, weder diese Grausamkeit noch sonst etwas. Sie hörte die Wellen des Meeres gegen die Klippen schlagen und wusste, dass ihre Reaktion ihren Vater erzürnte. Gerade als er ansetzen wollte, hörte Elvira plötzlich die Stimme ihrer Mutter: „Schatz… Für einen Tag reicht es erstmal…“ Sie war überrascht, dass ihre Mutter sie verteidigte und blickte sie nun hoffnungslos an, doch sie wich ihr aus. Nun schaute sie wieder zu ihrem Vater, Er schien zu zögern, kurz sah sie etwas wie Milde in seinen Augen, denn er legte sein Besteck zur Seite und ließ seine Hände auf der Tischplatte ruhen. „Nun gut, geh wieder in dein Zimmer.“ lenkte er ein und wollte schon mit dem Essen beginnen, da wagte Elvira es: „Was wird mit Killian und seine Eltern?“. Ihre Stimme zitterte und war viel leiser als sonst. Es kostete sie ihre letzte Kraft, ihrem Vater diese Frage zu stellen. „Das wirst du an deinem Geburtstag erfahren.“ seufzte er und nahm den ersten Bissen. Das reichte aus, um Elvira ein Würgen hervorzulocken.

 

„Und mit dem mir gegebenen Recht verurteile ich die Königsfamilie von L’Am-Ron, König Remus, Königin Lilianne und ihren Sohn Killian, wegen Hochverrats zum Tode.“, sprach ihr Vater mit dröhnender Stimme. Seine Worte hallten unheilvoll in dem großen Thronsaal wider. Vor dem Thron knieten sie, ihre zweite Familie, die sie aufgenommen und versorgt hatten. Verurteilt zum Tode, weil sie ihr geholfen hatten. Elvira hatte sie nun schon seit über einem Monat nicht mehr gesehen und jetzt saßen sie da. Die Haare verfilzt, die Kleidung verdreckt. Teilweise sogar abgemagert. Heute war ihr Geburtstag und ihre Verurteilung sollte Elviras Geburtstagsgeschenk sein. Nach der Verurteilung wurde Elvira wieder in ihr Zimmer gesperrt, wo sie bis zum Nachmittag verharren musste, während im Schlosshof die Vorbereitungen für die Hinrichtungen getroffen wurden. Man hatte Elvira bereits schon am Morgen in ein hübsches dunkelblaues Kleid gesteckt und verlangte nun von ihr, dass sie es sauber halten sollte. Sie hatte sich mit Krallen und Zähnen gewehrt, doch sie war zu klein, zu schwach, zu hilflos gewesen. Nun ganz alleine in ihrem Zimmer spürte sie wie Wut in ihr aufkeimte. Diese Wut entwickelte sich zu einem Gefühl, das sie vorher noch nie gespürt hatte und auch nicht richtig beschreiben konnte. Wenn sie eine Spinne in ihrem Zimmer gefunden hatte, spürte sie etwas wie Ekel, Angst und Abneigung. Doch das hier, das, was sie für ihre Eltern empfand, war viel stärker. Und sie glaubte, das erste Mal in ihrem Leben das Gefühl „Hass“ zu verstehen, von dem sie schon so viel in ihren Büchern gelesen hatte. Ohja, sie hasste ihre Eltern und das mit tiefstem Herzen.

 

            Inzwischen war es Nachmittag und die Königsfamilie stand mit Elvira auf einer festlich geschmückten Tribüne im Schlosshof. Vor ihnen war eine zweite Tribüne errichtet worden. Darauf waren Remus, Lilianne und Killian an drei Pfosten gefesselt worden. Man würde sie mit Pfeilen niederstrecken, von einem Bogen aus, der von ihrem Vater geführt werden würde. Elvira griff in ihre Tasche, streichelte das Ei, das sie immer noch versteckt hielt und das warm pulsierte, als wolle es ihr wirklich Trost spenden.                                                                          
Ihr Vater hielt eine Rede, sprach von Hochverrat, der Liebe zu seiner Tochter und vom Bankettessen, das nach der Hinrichtung folgen würde. Elvira biss die Zähne zusammen und ballte die Fäuste. Dieser Hass, der sie schon in ihrem Zimmer überrollt hatte, ergriff wieder Besitz von ihr. Sie spürte an ihrem Bein ein Zittern, als würde ihr Ei sie anspornen, es zu tun, ihrer Wut freien Lauf zu lassen, sich endlich zu wehren und allen zu zeigen, dass sie nicht machtlos war. Sie blickte zu Killian. Er starrte auf den Boden, Tränen liefen seine Wangen hinab und sie sah am Zucken seiner Schultern, wie sehr er litt. Seine Eltern blickten dem König trotzig in die Augen, kurz schaute Lilianne zu Elvira hinüber und lächelte sie gutmütig an. Als würde sie Elvira verzeihen, als wäre sie ihr nicht böse. Doch Elvira war böse, böse auf ihren Vater und auf sein Handeln und mit einem Mal konzentrierte sie ihre ganze Wut auf ihn, drehte sich zu ihm und beobachtete, wie er langsam den Bogen hob und den ersten Pfeil aus dem Köcher zog. Sie wollte am liebsten schreien, um sich schlagen und jeden beißen, der ihr in den Weg kam. Sie wollte um jeden Preis Killian und seine Familie retten. Stattdessen hob sie also ihre Hand, richtete ihre freie Handfläche auf ihren Vater und schrie: „NEIN!“. Alle Anwesenden verstummten. Alle schauten zu ihr, selbst ihr Vater. Kurz sah sie in seinen Augen Angst aufflackern, dann verzog er die Mundwinkel zu einem enttäuschten Lächeln. „Was braucht es denn noch, um deine Gabe zu entfachen? Reicht das hier denn nicht?“ er ließ kurz den Bogen sinken, breitete die Arme aus und zeigte auf die ganze Versammlung. Dann schüttelte er den Kopf und richtete den Bogen wieder auf Remus. Aber Elvira war noch nicht fertig. Diese unbändige Wut wütete immer noch in ihr und sie musste sie endlich loswerden! Immer noch die Hand auf ihren Vater gerichtet, schrie sie wieder: „NEIN!“. Diesmal beachtete er sie nicht, wollte schon losschießen, als der Pfeil vor ihm in Flammen aufging. „Was zum…?“ setzte er an, sah aber dann schon Rauch von seinen Schuhen aufsteigen, dann spürte er den Schmerz. Das Brennen in seinen Füßen, Flammen, die sich wie hungrige Mäuler an ihm hoch fraßen. Erst jetzt drehte er sich zu seiner Tochter um, zu seinem feuerroten Wirbelwind. Und diesmal sah er das Feuer nicht nur in ihren Haaren, sondern auch in ihren Augen. Flammen in Form von Hass strahlten in ihren sonst grünen Augen. Und dieser Hass schmerzte mehr als das Feuer, das seinen Körper jetzt völlig umschloss. Jetzt konnte er die Schmerzen nicht mehr zurückhalten und er schrie sie mit Leibeskräften heraus. Das Feuer verbrannte seine Haut, sein Innerstes, reduzierte seine Gedanken nur noch auf Schmerz und die Erkenntnis, dass seine Tochter doch eine Gabe hatte.




Envoyé: 15:50 Sat, 30 October 2021 par: Dostert Cassandra