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Radtke Celine

Unerreichbarkeit

Er stand vor mir.
Na ja, genau genommen trennte uns ein Tisch, aber das übersah ich einfach. Es war nicht
wichtig. In dieser Situation war nichts wichtig. Absolut gar nichts.
Ich war nervös. Mein Herz pochte schneller, immer, wenn er zu mir herüberkam, um sich
mit mir über sinnlose Texte zu unterhalten. Sinnlos vielleicht nicht, aber innerlich wünschte
ich mir, dass sich unsere Gespräche nicht nur um die Studieninhalte drehten. Es gab so viel
über das wir sprechen konnte, so viel, dass uns verband, gleichzeitig doch so weit
entfernt war.
Das Schreiben war unsere große Leidenschaft. Wir teilten die Begeisterung eigene
Geschichten zu Papier zu bringen, das Bedürfnis Unmengen an Notizen in kleine Notizbücher
zu kritzeln und immer in Gedanken versunken zu sein. Ich hatte ihn noch nie ohne dieses
kleine schwarze Buch gesehen, in dass er nahezu, während jeder Vorlesung etwas
hineinschrieb. Seine tiefsten Gedanken, seine innigsten Gefühle, einfach alles musste auf
den dünnen Seiten geschrieben stehen.
Und ich würde so gerne mehr über ihn erfahren, aber er war so verschlossen. Seine Seele
war völlig abgeschirmt, unantastbar. In mir rebellierte immer diese Angst, dass er mich
distanziert zurückweisen würde, wenn ich die unsichtbare Barriere übertrat, die uns
voneinander trennte.
Er war so nah und doch so weit entfernt. Dieser Tisch war der endlose Ozean, der mich mit
seinen meterhohen, stürmischen Wellen vom ihm abschotte. Auf meiner kleinen instabilen
Nussschale hatte ich keine Chance gegen die brechenden Fluten anzukämpfen. Ich gab mich
ihnen, ihm ohne Weiteres hin. Und es war so verflucht einfach. Seinen Augen konnte ich
nicht entfliehen. Es war ein Blick, der alles bedeutete. Voller Wärme, Intensität. Voller
Distanz, Unerreichbarkeit.
Seine scheinbar unspektakulären braunen Augen waren so unendlich tief, dass ich jedes
Mal aufs Neue in ihrer Schönheit versank. Sie hüllten mich in einen Bann, dem ich nur
schwer entfliehen konnte. So dunkelbraun, so unendlich braun sie aus der Ferne wirkten, so
hell glänzten sie aus der Nähe. Umhüllt von dunklen Wimpern, die zwei Edelsteine, zwei
klare Bernsteine einrahmten. Nicht einmal Blinzeln konnte ich, weil ich schlichtweg so
gefangen war. Und das war mir noch nie passiert! Ob es auf Gegenseitigkeit beruhte? Ich
wusste es nicht, ich konnte nicht einmal ansatzweise spekulieren. Aber als er so vor mir
stand ... es waren seine Augen, die wieder einmal von allem ablenkten. Mich die Realität
vergessen ließen und dass ich in meinem Leben nahezu alles hatte, außer ihn.
In Büchern wurden Blicke so intensiv beschrieben. Fast in jeder Liebesgeschichte las ich,
wie eindringlich der Blickaustausch zwischen den Protagonisten war. Oder dass alles
in den Hintergrund rückte, alles zu Flecken verschwamm, nichts weiter wichtig war. Ich hatte
immer gedacht, das wären diese typischen Szenen, die die Leser in ihren ganz eigenen
träumerischen Bann hüllten. Aber dann veränderte sich alles, bis ich mich plötzlich in der
Wirklichkeit wiederfand und tatsächlich alles um mich herum verschwamm. So dermaßen,
dass ich erst Sekunden später überhaupt realisierte, was gerade geschehen war. Und ich
hatte ihn nur angeschaut. Ein Blick, der viel zu viel Macht über mich hatte.
Ob er auch etwas spürte? Ich würde es nie herausfinden, wenn ich mich nicht endlich
trauen würde, ihn anzusprechen. Ich musste mutig sein! Aber die Angst war mein ständiger
Begleiter.


 




Envoyé: 16:44 Sat, 30 October 2021 par: Radtke Celine