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Hodzic Sena

Das Papier

"Wer glaubt, dass ein Blatt Papier von großem Wert sei, hat viel Fantasie"

 

Pause.

Sie schloss die Augen und setzte sich weiter hinten auf den Stuhl. Sie hob die Arme, legte sie sich auf den Kopf und verweilte eine Weile in dieser Haltung. Einatmen. Sie vernahm jeden Atemzug, spürte wie sich die Luft ihren Weg zu den Lungen bahnte. Sie versuchte sie so lange wie möglich drin zu behalten. Ausatmen. Mit bestimmter Entschlossenheit verließ der Atemzug ihren Körper, machte Platz für den nächsten. Funktioniert einwandfrei, dieser Körper. Sie streckte die Beine aus, zuerst das rechte, dann das linke, soweit bis sie ein Ziehen an der Unterseite ihres Beines vernahm. Sie spürte dass sich etwas in ihrem Körper tat, nur um festzustellen dass ein Gähnen kurz darauf das Licht der Welt erblickte. Instinktiv hielt sie sich die Hand vor den Mund.

Nun aber.

Konzentration. Sie öffnete langsam die Augen und die Farben ihrer Umgebung empfingen sie in warmen Tönen. Sie brauchte einige Sekunden um sich daran zu erinnern, wo sie sich überhaupt befand.Stuhl. Tisch. Alles klar. Sie musterte ihr Umfeld mit schnellem Blick, der sich reflexartig auf etwas vor ihr legte. Es war weiß. Leer. Sie konnte ein genervtes Stöhnen kaum unterdrücken. Schaute sich noch einmal um. War sie alleine? Die anderen waren schon längst gegangen. Sie fuhr mit ihren Fingern die Form nach. Vier Seiten, zwei jeweils gleich lang. Ihre Fingerkuppe streifte der scharfen Kontur nach. Sie schrak auf. Eine Öffnung zierte der Länge nach ihren Finger. Rotes Blut rann in feinen Strömen.Mist. Sie legte ihn sich an den Mund und saugte daran. Dann taxierte sie wieder das Blatt Papier, das vor ihr lag.

Denkpause.

Warum fiel ihr gerade jetzt nichts ein, dann, als es am wichtigsten war? Ihre Stirn wies deutliche Falten auf. Dabei hatte sie dies doch gar nicht nötig. Bekannt. Geehrt. Das war sie. Das sollte sie sein. Ihr Durchbruch lag nun schon einige Jahre zurück.Seitdem schrieb sie einige Bücher, wenn auch nur eins es in die Liste der Bestseller schaffte. Dieser Umstand verfrachtete sie in Lichtgeschwindigkeit zurück in die kleine WG, die sie sich mit anderen Hobbyautoren teilte. Amateure. Ihr Studium hatte sie nach dem Erfolg von "Stürmische Zeiten" abgebrochen.Nun kam sie mit dem Lohn einer 08/15 Journalistin über die Runden. Doch das wollte sie nicht mehr. Sie sehnte sich nach Freiheit. Danach, Menschen zu berühren, zu erreichen. Ebenso wie ihren Geldbeutel. Sie nahm den Stift wieder in die Hand, setzte sich gerade hin, streckte ihren Rücken durch. Ihre Wirbelsäule drohte zu brechen.

Komm schon.

Über was könnte sie schreiben? Sie machte sich einige Notizen. Tod, Trauer, Liebe, Ausland, Verrat.Sie hielt inne. Das hatte sie doch schon gehabt. Mehrmals.Etwas Neues musste her, etwas, was es so noch nicht gab. Was noch nicht zu Papier gebracht wurde. Sie dachte einen Moment lang nach. Unsinn. So gut wie alles ist irgendwann mal niedergeschrieben worden. Oder etwa nicht? Briefe, Urkunden, Verträge...von der Literatur ganz zu schweigen. Gedanken großer Männer, Worte kleiner Leute. Doch nicht nur das. Erfindungen, Konstruktionen und Entwürfe bekamen ihre Form auf dem Papier. Meine Geburtsurkunde, mein Führerschein. Mein Personalausweis. Kann es sein, dass die Existenz des Papieres die unsere so sehr beeinflusst hat; Im Laufe der Geschichte...heute? Sie dachte etwas weiter. Kunst. Was wäre unsere heutige Kunst ohne einem Tragwerk wie Papier? Ein Rembrandt wäre uns heute nicht bekannt. Die Mona Lisa? Nonexistent. Ihr Bauch machte plötzlich gurgelnde, auffordende Geräusche. Sie dachte an das Nudelrezept,das sie zuhause liegen hat.Und wenn man es noch genauer nimmt, besteht Papier aus Bäumen, die wiederrum ein Teil unserer Natur sind. Natur. Ein großes Wort, sehr vage. Denn sowie das Papier ein Produkt der Natur ist, so sind wir es auch. Und wir schaffen auf dem Papier. Aus dem Papier. Sie stützte das Kinn auf ihre Hände. Im Grunde genommen sind wir nichts anderes als Kunst. Geschaffen um zu schaffen. Dimourgia. Ein Piepsen riss sie aus den Gedanken. 22:30. Zeit nach hause zu gehen. Eigentlich. 

Sie nahm den Stift in die Hand.




Envoyé: 11:33 Tue, 24 February 2015 par: Hodzic Sena