Das Herrenhaus thronte scheinbar schon immer auf dem Hügel hinter dem Dorf. Die von Efeu umschlungenen Backsteinmauern wirkten wie verwachsen mit dem felsigen Grund, so als hätte sie Mutter Natur höchstpersönlich in die von Laubbäumen und Sandsteinfelsen geprägte Landschaft eingebettet. Vier kleine Spitztürme ragten weit in den Himmel, an manchen Stellen fehlte eine der Schieferplatten, die das Dach kleideten, und die Marienfigur, die vor langen Jahren im Vorhof gestanden hatte, war von einem besonders heftigen Sturm zerstört worden. Selbst der ungepflasterte Karrenweg, der die einzige Verbindung zum Dorf darstellte, war von Wurzelgeflecht und losem Gestein fast unpassierbar geworden. Nichtsdestotrotz hatten weder Zeit noch Witterung den Grundfesten des Herrenhauses jemals ernsthaft etwas anhaben können. Allabendlich zeichnete sich die Silhouette riesenhaft und unbeugsam gegen die schwindende Sonne ab und tunkte das nahe Dorf in tintenschwarze Schatten.
Wenngleich seine äußere Erscheinung abstoßend wirkte, so strahlte das einsame Haus doch eine über die Jahrhunderte ungebrochene, in Faszination und Ehrfurcht getränkte Anziehungskraft aus, weswegen sich seit jeher die wildesten Geschichten darum rankten. Ganz besonders der Keller fand stets Erwähnung, wenn das Geschwätz der Leute sich mal wieder um das Herrenhaus drehte. Nicht nur, weil dunkle Kellergeschosse – zurecht – verrufene Orte waren, sondern weil in diesem Keller ein ganz besonderer Gegenstand aufbewahrt wurde.
Es hieß, das unheimliche Herrenhaus auf dem Hügel hinter dem Dorf beherberge einen blinden Spiegel, der einem weder Antlitz noch Leib vor Augen führe. Stattdessen sehe man, sofern man den Blick auf die schwarze Spiegelfläche zu lenken wagte, ein unbändiges Grauen. Worin dieses Grauen bestand, unterschied sich von Geschichte zu Geschichte. Manche sagten, wer einmal in den Spiegel hineinschaue, der könne nie wieder wegschauen und müsse von Hunger und Durst elendig zugrunde gehen. Andere sagten, der Spiegel sauge die Seele eines jeden ein, der davorstehe. Wer diese Behauptungen in die Welt gesetzt hatte, wusste niemand. Schon ewig hatte kein Außenstehender das Herrenhaus mehr betreten und hätte sich der Existenz des Spiegels versichern können. Trotzdem waren sich alle im Dorf einig: Der blinde Spiegel war real und er wurde tief in den Eingeweiden des alten Herrenhauses versteckt.
Auch der Besitzer des Hauses wurde nicht vom Tratsch verschont. Ja, das Haus war bewohnt, wenngleich es der allmählichen Verwilderung wegen den Eindruck machte, es stünde seit Jahren leer. Ein betagter Graf lebte dort, mit niemandem als einem alten, absonderlichen Diener als einzige Gesellschaft.
Es ging das Gerücht um, der Graf sei seiner Frau, die einst im Wochenbett verstarb, schon lange in den Tod gefolgt und sein Leib würde irgendwo in dem alten Haus verrotten. Vielleicht hatte er der Versuchung nachgegeben, in den blinden Spiegel zu schauen, so tuschelte man. Vielleicht war er vom Geist einer seiner Vorfahren heimgesucht worden. Vielleicht war er auch einfach dem Alter erlegen und der sonderbare Diener unterhielt das Haus weiter, ohne sich des Todes seines Herren gewahr zu sein. Im Dorf hatte man den Grafen seit seiner Witwenschaft jedenfalls nicht mehr gesehen.
Den Gerüchten wurde ein Ende gesetzt, als eines Morgens ein Leichenwagen am Fuße des Hügels hielt und ein paar Männer sich mit einer Bare den unwegsamen Pfad hinaufquälten. Die unerwartete Ankunft des Leichenwagens zog die Schaulustigen an wie ein Kadaver die Fliegen, sodass jede Menge Dorfbewohner den Unglücklichen, die dem Vorfall nicht persönlich beiwohnten, später mit Feuereifer bezeugten, dass ein langes Etwas, unter einem weißen Laken bedeckt, auf der Bare den Hang runtergetragen und in den Wagen verladen worden war.
Es hatte einen Toten gegeben, aber handelte es sich dabei um den Diener oder um den mysteriösen Grafen höchstselbst?
Dass es sich um den Grafen gehandelt haben musste, schloss eine Gruppe Dörfler wenige Tage später auf dem Wochenmarkt, nachdem zum zweiten Mal ein Wagen am Fuße des Hügels gehalten hatte. Diesmal war ein adretter Mann im mittleren Alter den Karrenweg hochgestiegen, hatte das geheimnisumwitterte Herrenhaus betreten und war darin verschwunden.
„Vielleicht hat sich der Graf einen neuen Diener geholt?“, mutmaßte Fräulein Emma, die unscheinbare Bäckerstochter.
„Er kann kein neuer Diener sein!“, widersprach die vollleibige Madame Sophie, die ihrerzeit eine erfolgreiche Opernsängerin gewesen war und ihren Ruhestand nun fern des Stadttrubels auf dem Land genoss. „Dazu war er viel zu schick gekleidet. Kein Diener kleidet sich so schick!“
„Vielleicht hat er das Haus erstanden“, meinte der Major Charles. Das blankpolierte Dienstgradabzeichen an seinem Hemd blitzte in der fahlen Herbstsonne. Der Major Charles würde lieber sterben, als es abzunehmen, wie er stets jedwedem beteuerte.
„Hab nix von ner Erstehung gehört. Des wär auch viel zu schnell gegangen“, warf der Metzgermeister mit den plumpen Händen und der großen Nase ein.
„Nein, das Haus wurde nicht erstanden. Es wurde vererbt. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche“, behauptete die Frau des Bürgersmeisters, welcher selbst nur dann auf dem Wochenmarkt zugegen war, wenn die Neuwahlen vor der Tür standen und er vom Pöbel gesehen werden musste. Aber das machte nichts, weil seine Frau sich nur zu gern unter die Leute mischte und den Gang zum Wochenmarkt daher mit Vergnügen übernahm.
„Woher nehmen Sie sich diese Sicherheit, Frau Adelroth?“ Der graue, feinsäuberlich gestutzte Schnauzer des Majors, der nach dem Dienstgradabzeichen sein zweitgrößter Stolz war, hüpfte beim Sprechen skeptisch auf und ab.
„Ich kenne seinen Namen“, sagte Frau Adelroth mit geschürzten Lippen und hochgezogenen Augenbrauen.
„Nun lassen se sich nich alles aus der Nase ziehn! Wer is der Kerl?“, entnervte sich der Metzgermeister.
Doch Frau Adelroth schwieg und suhlte sich in der Aufmerksamkeit, die ihr zuteilwurde. Sie liebte es, ihre Mitmenschen zappeln zu lassen. Erst als Madame Sophie sich lauthals räusperte, rückte die Frau des Bürgermeisters endlich mit der Sprache raus: „Sein Name ist Theodor Robert Amaury Freyhold. So steht es jedenfalls in der Liste des Einwohnermeldeamts und dieser Name taucht auch in den Familienchroniken der Freyholds auf. Damit dürfte klar sein, dass es sich bei dem Neuankömmling um den einzigen Sohn des alten Grafen handelt.“
Und weil diese Aussage von Frau Adelroth kam, von der jeder wusste, dass sie ihre gesamte Freizeit damit verbrachte, die Einwohner mit jeglichen Mitteln auszuspionieren, wurde sie nicht in Frage gestellt. Der Neuankömmling war Graf Theodor Robert Amaury Freyhold, der alleinige Erbe des verstorbenen Grafen Freyhold.
„Ein Mann wie er sollte nicht in diesem grässlichen Spukhaus leben“, befand Madame Sophie. „Er wirkt weltgewandt und charismatisch, ganz anders als sein Herr Vater.“ Dies schloss sie aus dem kurzen Augenblick, da sie das Gesicht des jungen Grafen beim Verlassen seines Wagens gesehen hatte. Überhaupt schloss Madame Sophie gerne in Sekundenschnelle ein Urteil über andere.
„Und er hat so feine Züge“, schwärmte Fräulein Emma mit unter dem Kinn zusammengefalteten Händen, obwohl sie der Ankunft des jungen Grafen, im Gegensatz zu Madame Sophie, überhaupt nicht beigewohnt hatte, sondern sich lediglich an das Getuschel der Dorfmädchen hielt.
„Er war seit seiner frühen Kindheit nicht mehr hier“, erinnerte sich Major Charles. „Der Junge wurde früh in ein Internat am anderen Ende des Landes geschickt und ist danach nicht mehr zurückgekehrt. Besonders nahe scheint er seinem Vater nicht gestanden zu haben.“
„Ob er wohl Näheres über das Grafenhaus weiß?“, fragte sich Madame Sophie.
Frau Adelroth blickte einen Moment nachdenklich drein. Dann legte sich ein fratzenhaftes Grinsen auf ihr rundes Gesicht. „Wir sollten dem Armseligen unser Beileid ausdrücken. Immerhin lebt er jetzt ganz allein in dem Spukschloss und muss untröstlich sein.“
„Absolut!“, fiel Madame Sophie sofort mit ein. „Der alte Graf mag jeglichen Besuch abgelehnt haben, aber der Junge wird uns wohl kaum abweisen, wenn wir vor seiner Tür stehen und unser Mitgefühl kundtun wollen.“
„Das sehe ich auch so“, meinte Major Charles. „Wir können den armen Teufel nicht seinem einsamen Schicksal überlassen.“
„Undenkbar, wenn ihm etwas in dem Gemäuer zustieße!“, entbrannte sich Fräulein Emma.
„Das können wir nich verantworten“, stimmte der Metzgermeister zu.
Sodann brach der fünfköpfige Trupp zum Hügel auf. Endlich ergab sich ihnen ein Vorwand, das Anwesen aufzusuchen und die vom kürzlichen Todesfall entfachte Neugierde, die sich wie ein Lauffeuer durch das Dorf verbreitet hatte, aus erster Quelle zu stillen. Einem Rudel hungriger Wölfe gleich schlichen sie die Straße bis zum Karrenweg entlang; und von da kraxelten sie den Berghang hinauf. Jegliche altersbedingten Gebrechen waren restlos verschwunden.
Derweilen senkte sich die Sonne tief im Westen und ein schneidend kalter Wind hatte den Himmel mit Wolken verhangen. Der Wetterumschwung sollte das düstere Omen sein, das die Dorfleute zur Umkehr hätte bewegen können, doch schenkten sie ihm, völlig von ihrer Sensationsgier eingenommen, keine Beachtung.
Nach dem mühevollen Aufstieg hielten sie abrupt vor einem verrosteten Eisengatter an und staunten. So nah war dem Herrenhaus noch keiner von ihnen gekommen. Groß und bedrohlich wie ein schlafendes Raubtier lag es im Schein des schmutzigblassen Restlichts vor ihnen. Die leisen Zweifel, die dieser Anblick in ihren Herzen säte, wurden jedoch erstickt, noch bevor sie hätten auskeimen und Früchte tragen können. Niemand wollte zurückbleiben und sich später anhören müssen, ein Feigling gewesen zu sein.
Angeführt von Frau Adelroth, die das quietschende Gatter mit einem heftigen Stoß öffnete, bewegte sich der ungleiche Trupp also auf die eichene Eingangstür des Herrenhauses zu. Um sie herum fuhr ein erregtes Rascheln durch die blutroten Blätterkronen, als würden sich die Pflanzen gegen den ungewöhnlichen Besuch aufbäumen.
Die Frau des Bürgermeisters verhielt an der Tür, zögerte einen Moment, dann ergriffen ihre dünnen Finger den schweren, schmucklosen Türklopfer und rammten ihn kraftvoll gegen das Holz. Während im Innern des Hauses ein dumpfes Hämmern erschallte, sprachen die Dorfleute kein Wort. Lediglich Fräulein Emmas leises Wimmern mischte sich in das Kratzen der Blätter und in das stetige Heulen des Windes. Um sich vor ihrem eigenen Unbehagen abzuschirmen, zog sie sich ihren Wollschal enger um den zierlichen Oberkörper.
Eine quälend lange Zeit passierte nichts. Dann ertönte das Klicken und Klacken eines Türschlosses, das von Innen geöffnet wurde. Frau Adelroth straffte den Rücken in Erwartung des alten Dieners, doch als die Tür aufschwang, erschien dahinter der junge Graf höchstselbst.
Edel und kalt stand er an der Schwelle, von den Schatten des Hauses umrahmt, als wäre er einem Gemälde entsprungen. Er war ein wahrlich schöner Mann, daran konnten weder die leichten Krähenfüße noch das graumelierte Haar etwas ändern. Die tiefliegenden Augen tasteten die Dorfleute einen nach dem anderen wie Scheinwerfer ab. Und ganz plötzlich, als hätte er sich zu spät seines eigenen Mienenspiels erinnert, erschien ein Lächeln auf seinen Lippen. „Was für eine erfreuliche Überraschung!“
Fräulein Emma seufzte, dem Charme des Lächelns unwiderruflich verfallen. Auch Madame Sophie schoss die Röte in die Wangen.
Frau Adelroth schürzte hingegen unbeeindruckt die Lippen. „Verzeihen Sie die Störung, Herr Freyhold. Wir sind gekommen, um Ihnen unser Beileid über Ihren kürzlichen Verlust auszudrücken. Wären Sie so freundlich, uns hereinzubitten?“
Der Intensität seines stechenden Blickes alleinig ausgesetzt, musste sie nun doch mit aller Kraft der Versuchung widerstehen, den Kopf zu senken.
Schließlich entließ der Graf sie aus den Fesseln seiner Augen und sein Lächeln wurde noch breiter. „Wie aufmerksam von Ihnen. Gäste sollen mir stets willkommen sein. Treten Sie doch ein!“
Er tat einen Schritt beiseite und lud die Dorfbewohner mit einer Handgeste dazu ein, das Vestibül des alten Herrenhauses zu betreten. Einer nach dem anderen kehrten sie in die von schummerigem Kerzenschein beleuchtete Vorhalle ein, bevor die Eingangstür mit einem Krachen ins Schloss fiel und die äußere Welt aussperrte.
Innerhalb der massiven Mauern herrschte eine Grabesstille, die der Graf nach ein paar drückenden Sekunden mit seiner geigenhaften Stimme durchbrach. „Ich denke, das Kaminzimmer müsste für den Empfang angemessen sein. Bitte folgen Sie mir.“
Er führte die Ankömmlinge durch die zahlreichen verwinkelten Gänge, die dem Anwesen die Unüberschaubarkeit eines Labyrinths verliehen, bis diese in einen holzvertäfelten Raum mit Stuckdecke mündeten. Das Herzstück des Raums war ein altertümlicher Marmorkamin, um den herum allerlei gepolsterte Sitzmöbel platziert worden waren, die zum Hinsetzen einluden.
„Nehmen Sie doch Platz“, sagte der Graf. „Ich werde meinen Diener bitten, uns eine Flasche Cognac zu bringen. Oder wünschen die Damen etwas anderes?“
Fräulein Emma kicherte wie ein Schulmädchen und Madame Sophie ließ sich mit vollem Gewicht auf eine Chaiselongue fallen.
„Einem Gläschen Rotwein wäre ich nicht abgeneigt“, meinte die ehemalige Opernsängerin, während sie sich ihr Kleid glattstrich – eine Geste, die ihre vorige Plumpheit mitnichten wettmachte.
Der Graf nickte höflich und machte auf dem Absatz kehrt, nur um bald darauf in Begleitung des erwähnten Dieners wiederaufzutauchen.
Der Diener war wahrlich von absonderlicher Gestalt. Die Glieder schienen ihm steif wie die einer Puppe, die Wangen waren eingefallen, die Haut in seinem Gesicht hatte die Farbe von verblichenem Papier und die wenigen Haare, die ihm auf dem Kopf geblieben waren, hatte er zu einem Seitenscheitel gekämmt. Als er die Lippen zu einem Lächeln verzog, wurde eine Reihe grauer Zähne mit freiliegenden Zahnhälsen entblößt. Unwillkürlich drängte sich bei diesem Anblick die Frage auf, ob sich unter den Handschuhen, die sich um ein Tablett mit Gläsern geschlossen hatten, statt Fingern nicht eher blanke Knochen, bar jeden Fleisches, verbargen. Er setzte das Tablett auf einem niedrigen Tisch ab und begann, den Gästen je nach Wunsch Cognac oder Rotwein auszuschenken. Dem Grafen, der sich neben den Kamin gestellt hatte, händigte er zuletzt ein Glas aus, bevor er sich aus dem Raum zurückzog.
„Nun denn“, sagte der Graf und hob sein Glas, „Trinken wir auf meinen Vater, einen unvergleichlichen Mann, und auf das Familiengeschlecht der Freyholds.“
„Auf die Freyholds“, stimmten die Dorfleute in das Prosit mit ein. Alle zusammen führten sie die Gläser an ihre Lippen, während das Kaminfeuer im Hintergrund leise knisterte und tanzende Schatten in ihre Gesichter zeichnete.
Der Metzgermeister hatte sein Glas in einem Zug geleert. Wortlos beugte sich der Graf nach vorne und schenkte nach.
Just in diesem Augenblick fuhr ein Knarzen durch die Holzbalken, woraufhin der Major Charles so heftig zusammenzuckte, dass er den Cognac auf seinen Schoss vergoss.
„Himmel, das ist wirklich ein Spukschloss!“, entfuhr es ihm.
„Wer wird denn hier gleich nervös?“, spottete Madame Sophie und leerte ihrerseits ihr Glas. Sie schnappte sich die Weinflasche vom Abstelltisch und füllte es eigenhändig wieder auf.
Frau Adelroth musterte indes den Gastgeber aus unverhohlenen Augen. „Was halten Sie von den Spukgeschichten, die man sich über Ihr Haus erzählt, Herr Freyhold? Sind sie wahr?“, fuhr sie mit der Tür ins Haus.
Sofort drehten sich alle Köpfe dem Grafen zu.
Dieser lächelte leise in sich hinein, nahm einen Schluck Cognac, kostete ihn, so wie er den Moment auskostete, und schwenkte den Rest des Getränks in seinem Glas herum. Erst als sich der darauf entstandene Strudel wieder beruhigte, hob er zu seiner Antwort an. „Dieses Haus ist alt“, sagte er, „sehr alt. Ich weiß nicht, welche Geschichten man sich unten im Dorf erzählt – zweifellos sind sie übertrieben, aber… Wenn es einen Ort auf dieser Welt gibt, wo die Geister der Vergangenheit nicht zur Ruhe kommen, dann hier.“
Fräulein Emma packte das Kristallglas in ihren zierlichen Händen fester und riss die Augen groß auf.
„Bei dem Gedanken kommt man ja ins Schaudern!“, säuselte Madame Sophie und schenkte sich schon wieder nach.
„Was is… was is mit dem Spiegel?“, fragte der Metzgermeister.
„Ah!“, sagte der Graf. „Der blinde Spiegel. Dessen Geschichte kenne ich sehr wohl.“
„Und?“ Frau Adelroth hatte sich unmerklich nach vorne gebeugt, um ja kein Wort zu verpassen. „Werden Sie sie uns erzählen?“
„Wenn Sie darauf bestehen“, sagte der Graf. „Mein Vater erzählte mir die Geschichte des Spiegels einst, so wie mein Großvater sie ihm erzählt hat. Sie geht bis ins Mittelalter zurück. Einer meiner Vorfahren hat damals einen Bettler abgewiesen, der in der darauffolgenden Nacht den Hungertod gestorben ist. Da wurde es dem Vorfahren angst und bange um seinen Platz im Himmelreich. In tiefster Verzweiflung bat er eine Hexe darum, ihm Einblick in sein Innerstes zu gewähren, um die Gewissheit zu erlangen, wie es um seine Seele stand. Die Hexe tauschte einen in Leinen eingepackten Spiegel gegen eine nicht unbeachtliche Menge Gold. Im Keller ebendieses Hauses hat der Vorfahre den Spiegel ausgepackt und zum ersten und zum letzten Mal hineingesehen, denn die Verdorbenheit seiner Seele hat ihn um den Verstand gebracht und er hat sich noch am selben Tag zu Tode gestürzt. Seither steht der Spiegel dort.“
„Dat is ja ein nettes Ammenmärchen, Herr Freyhold“, kommentierte der Metzgermeister die Geschichte.
„Oh, das ist kein Ammenmärchen. Der blinde Spiegel existiert. Er steht unter unseren Füßen.“
„Ich glaube Ihnen kein Wort“, lallte Madame Sophie. „Es sei denn, ich könnte den Spiegel mit eigenen Augen sehen.“ Sie gluckste und hielt sich daraufhin kichernd die Hand vor den Mund.
„Seien Sie versichert, dass Sie keineswegs die Ersten sind, die den Spiegel zu sehen verlangen. Über die Jahrhunderte klopften viele an die Tür dieses Hauses, davon überzeugt, der Macht des Spiegels standhalten zu können. Doch niemand, der hineingesehen hat, hat dieses Grundstück wieder lebend verlassen. Denn niemandes Seele ist wirklich rein.“
„Nun binden Sie uns keinen Bären auf, Herr Freyhold!“, ärgerte sich der Major Charles.
„Das ist keineswegs meine Absicht“, versicherte der Graf.
„In dem Fall macht es Ihnen sicherlich nichts aus, wenn wir uns selbst überzeugen“, sagte Frau Adelroth.
„Bedaure, aber das kann ich nicht zulassen.“
„Wir bstehn drauf!“, rief Madame Sophie.
„Jawoll!“, schob Fräulein Emma leise aber bestimmend hinterher.
Das Lächeln war aus dem Gesicht des Grafen verschwunden. Den Blick hatte er nunmehr auf seine Schuhe gerichtet. „Wie ich sehe, kann ich Sie nicht umstimmen. Und was wäre ich für ein Gastgeber, mich dem Wunsch meiner Gäste zu widersetzen? Ich habe Sie gewarnt. Mehr kann ich nicht tun. Sie sollen den blinden Spiegel sehen. Kommen Sie.“
Und so erhoben sich die Gäste, Madame Sophie mehr schlecht als recht, und folgten dem Grafen abermals durch die labyrinthischen Gänge des Hauses. Vor einer schmalen Holztür blieb er stehen. Er kramte einen großen, rostigen Schlüsselbund hinter seinem Jackett hervor und steckte einen der Schlüssel in das Schloss. Die Tür schabte über den Boden, und dahinter führte eine Treppe in die Dunkelheit.
Der Graf verharrte für einige Sekunden dort und blinzelte dem Kellerschlund entgegen, den Schlüssel noch in der Hand. Dann stieß er lauthals Luft durch die Nase, griff nach einem dreiarmigen Kerzenhalter auf einem Tisch und stieg die knarrende Treppe hinab; die neugierige Gastschar dicht auf den Fersen. Unten angekommen stand nichts als die drei spärlich leuchtenden Kerzen zwischen ihnen und der allesverschlingenden Schwärze.
Der niedrige Gang verzweigte sich in mehrere Richtungen.
„Brrr. Wie kalt es hier ist!“, hauchte Fräulein Emma und packte ihren Wollschall wieder eng um sich.
„Hier unten befinden sich neben nicht mehr benutzten Speise- und Vorratskammern auch die Kellerräume der ehemaligen Bediensteten. Zur Spiegelkammer geht es hier entlang“, erklärte der Graf.
Wenige Minuten später verhielten sie vor einer mit Eisen verstärkten Eichentür. Die dicken, schwarzen Nieten ließen erahnen, dass diese Tür ebenso alt wie die Backsteine in den Mauern drumherum war. Von ihr ging eine unerklärliche Anziehungskraft aus, noch durchdringender als die des restlichen Hauses. Fast konnte man sie flüstern hören – gleichermaßen lockend wie abschreckend. Der Graf reichte den Kerzenhalter an Frau Adelroth weiter und suchte dann den Schlüsselbund nach dem passenden Schlüssel ab. Als er ihn gefunden hatte, steckte er ihn ins Schloss der Tür, drehte ihn langsam und zog ihn wieder zurück. Mit bedeutungsschwerem Blick wandte er sich an die Dorfleute.
„Weiter werde ich Sie nicht begleiten. Wer meine Warnungen in den Wind schlägt und die Wahrheit nicht fürchtet, der soll durch diese Tür treten. In dem Raum dahinter finden Sie den blinden Spiegel.“
Frau Adelroth zog die Tür auf und drehte sich ein letztes Mal dem Hausherrn zu. Der Graf nahm sich eine der drei Kerzen von ihr zurück. In seinem Blick lag das unausgesprochene Flehen, dass sie sich ihr Vorhaben noch einmal überlegen sollte, doch sie schürzte die Lippen und betrat die Spiegelkammer.
Einer nach dem anderen folgten ihr die Dorfleute. Der Graf blieb in dem Gang zurück; die einsame Kerze mit beiden Händen vor der Brust umklammert, als würde sie in der Luft schweben.
In der Kammer befand sich tatsächlich ein Möbelstück – unter dicken, fleckigen Leinen verpackt stand es an der nackten Steinwand. Bis auf ebenjenes Möbelstück war der winzige Raum leer.
Die Dorfleute sammelten sich in einem Halbkreis vor dem ominösen Spiegel. In stiller Eintracht hielten sie den Blick darauf gerichtet:
Fräulein Emma, die sich ihre Unscheinbarkeit zu Nutzen gemacht hatte, um wertvolle Gegenstände zu stehlen, wann immer es die Situation zuließ.
Frau Adelroth, die mit ihrer unbändigen Sucht danach, in den Leben ihrer Mitmenschen herumzuschnüffeln, schon so manche Familie auseinandergerissen hatte.
Der Metzgermeister, der das tägliche Aufschlitzen von Kehlen nur mit Alkohol ertrug.
Der Major Charles, dessen Fahnenflucht nie aufgeflogen war.
Und Madame Sophie, die ihr uneheliches Kind heimlich ertränkt hatte, um ihrer Sängerkarriere nicht zu schaden.
Die Tür zur Kammer schlug in dem Moment zu, als Frau Adelroths Finger nach dem Leinen griffen und daran zogen.